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Der Bundesrat hat am 18. März 2020, zwei Tage nachdem er die Ausserordentliche Lage ausgerufen hat, die Volksabstimmungen vom Mai 2020 abgesagt und auf den September verschoben. Die Begründung lautete: Die Pandemie behindere den Meinungsbildungsprozess.

War dieser Entscheid berechtigt? Die Forschung meint nein.

Ein Forschungsteam hat im Jahr 2019 anhand der Zürcher Kantonsratswahlen und der nationalen Wahlen untersucht, wie sich das Stimmvolk informiert. Resultat: Das Wenigste geschieht im öffentlichen Raum von Angesicht zu Angesicht. Sondern via Medien, Abstimmungsplakate, Online-Quellen, oder Gespräche am Arbeitsplatz und in der Familie. Podiumsdiskussionen und Standaktionen spielen eine untergeordnete Rolle.

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Wie sich Stimmberechtige informieren. (Quelle: Braun Binder, Nadia; Jan Fivaz und Daniel Schwarz (2020). Warum die Pandemie die Meinungsbildung nicht aushebelte. DeFacto, 18. 9. 20).

Trotz Pandemie wäre also die Information der Bevölkerung und eine korrekte Volksabstimmung gewährleistet gewesen.

Darum ist seit dem Herbst ja auch dieses demokratische Instrument wieder vollumfänglich gewährleistet.

Doch der Bundesrat hat noch auf einer weiteren Ebene in die demokratischen Prozesse eingegriffen. Er hat die Gemeindeversammlung – nicht gerade ausser Kraft gesetzt, aber ihnen doch so starke Sicherheitsanforderungen auferlegt, dass sie vielenorts nicht durchgeführt werden konnten.

Zum Beispiel im September in Thalwil, wo mehr Leute an der Gemeindeversammlung teilnehmen, als das Schutzkonzept zuliess. 450 hätten in der Kirche Platz gehabt und 150 im Gemeindesaal. Aber es waren deutlich mehr, weil heikle Geschäfte auf der Traktandenliste standen.

Warum konnten Gemeindeversammlungen nicht virtuell durchgeführt werden? Wir waren ja alle dauernd online für geschäftliche Treffen?

Da werden Bedenken bezüglich der Sicherheit angemeldet. Die darf man zwar nicht ausser Acht lassen, aber auch der ETH-Rat wurde letztes Jahr per Zoom gewählt. Und wenn das «Electoral College» in den USA virtuell abgehalten werden kann, um den Präsidenten der mächtigsten Nation der Welt zu bestimmen, dann könnte man wohl auch über den Bau eines Seeuferwegs in einer Schweizer Gemeinde virtuell abstimmen.

Und wenn tatsächlich die mangelnde Sicherheit gegen elektronische Gemeindeversammlungen spricht, warum hat dann der Bundesrat, virtuelle Aktionärsversammlungen erlaubt? Sind Entscheide in milliardenschweren Firmen weniger heikel als die Zonenordnung einer kleinen Landgemeinde?

Auch hier wird wieder mit der Meinungsbildung argumentiert. Zum Beispiel von Doris Meier Kobler kürzlich an einer Veranstaltung von eZürich zum Thema eDemocracy. Doris Meier ist Kantonsrätin der FDP und Gemeindepräsidentin in Bassersdorf.
Dem widersprachen mehrere Forschungsarbeiten.

An Gemeindeversammlungen findet kein politischer Diskurs statt, sondern vor allem Gerede. Wortmeldungen gibt es immer; knappe Mehrheiten selten, unerwartete Ergebnisse selten, Ablehnung von Anträgen der der Exekutive selten.

Ein weiterer Einwand gegen die elektronische Gemeindeversammlung ist: Sie sei nicht repräsentativ.

Es würden ältere Leute ausgeschlossen, die den Umgang mit dem Computer weniger gewohnt sind. Erstens ist es eine Mär, dass Ältere nicht mit dem Computer umgehen können. Und wenn zweitens jemand tatsächlich Schwierigkeiten hat, Zoom zu installieren, könnten zum Beispiel junge Leute einen solchen Dienst anbieten. Das würde dann gleich noch die Generationensolidarität stärken.

Ausserdem ist auch die Gemeindeversammlung in der Turnhalle oder der Mehrzweckhalle nicht repräsentativ zusammengesetzt. Auch das zeigt die Forschung.

Jüngere Leute sind untervertreten, dafür ältere eher übervertreten. Untervertreten sind auch Frauen. Ausserdem nehmen maximal zehn Prozent der Stimmberechtigten teil. Bei einer Urnenabstimmung würde man von einer miserablen Beteiligung sprechen.

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Wer an Gemeindeversammlungen teilnimmt. (Quelle: Ladner, Andreas (2016). Gemeindeversammlung und Gemeindeparlament. Überlegungen und empirische Befunde zur Ausgestaltung der Legislativfunktion in den Schweizer Gemeinden. Lausanne: Cahier de l’IDHEAP Nr. 292.)

Weiter werden oft als Argument gegen digitale Abstimmungen die Manipulierbarkeit und der Datenschutz vorgebracht. Dabei ist der Datenschutz beim Handerheben in der Mehrzweckhalle gleich null. Alle sehen, was ich stimme. Vielleicht wäre die elektronische Gemeindeversammlung sogar demokratischer. Denn Abstimmungen am Computer zuhause sind nicht von sozialem Druck beeinflusst. Wer erhebt in der Turnhalle schon gerne die Hand gegen ein Projekt, wenn alle Nachbarn, der Gemeinderat oder Gewerbevertreter dafür stimmen? Schliesslich will man mit denen ja auch künftig gut auskommen.

Für die Versammlung vor Ort spricht die Tradition. Doris Meier Kobler, die Präsidentin von Bassersdorf, redet von einer «urdemokratische Institution». Dazu kommt der soziale Aspekt, also die Wurst und das Bier danach. Wo man sich trotz unterschiedlicher Meinungen wieder vertragen kann.
Die Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer von der Uni Zürich hingegen sagt, die Gemeindeversammlung werde «als Wiege der Demokratie romantisch verklärt».

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Wer hat recht? Der Blick auf die Schweizer Karte zeigt, dass vier von fünf Schweizer Gemeinden eine Gemeindeversammlung durchführen. Das sind zwar viele, aber nicht alle. In eher konservativen Kantonen (UR, SZ, OW, NW, GL) sind es alle. Im progressiveren Neuenburg gibt es nur Gemeindeparlamente – ebenso im Tessin. Und in der Waadt ist es knapp die Hälfte. Demokratie funktioniert also auch ohne Gemeindeversammlung.

Die Digitalisierung hat durch die Pandemie einen enormen Schub erhalten. Fragt sich, ob dieser auch demokratische Institutionen erfasst. Denn digitale Tools könnte man auch für andere Einsätze nutzen: zum Unterschriften sammeln, oder für Vernehmlassungen. Kehren wir nach der Pandemie zum alten System zurück oder nutzen wir sie als Chance für die eDemocracy?

Schliesslich kann man auch nach einer elektronischen Gemeindeversammlung noch auf dem Dorfplatz zu Wurst und Bier zusammenkommen.

Literaturtipps

Daniel Graf und Maximilian Stern: Agenda für eine digitale Demokratie. Chancen, Gefahren, Szenarien. Zürich, NZZ Libro (2018).

Uwe Serdült: Kommt die Demokratie wegen der Digitalisierung unter Druck? (De Facto 30.1.2018)

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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