Scham hat einen schlechten Ruf. «Scham ist der Sumpf unserer Seele», erklärt zum Beispiel die US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin und Schamforscherin Brené Brown in ihrem Tedx-Talk zur Scham. Den Zuschauenden empfiehlt sie, mit wasserdichten Stiefeln in die Schlacht gegen die Scham zu schreiten. Ihr Credo: «Schämt euch nicht!»
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Dieser Meinung sind nicht alle. Ein bisschen davon täte uns allen gut, findet zum Beispiel der emeritierte Zürcher Psychiatrieprofessor Daniel Hell. Die nützlichen Seiten der Scham hat er in seinem Buch «Lob der Scham» beschrieben.

Regulatorin des Zusammenlebens

«Scham hat etwas mit Taktgefühl zu tun», erklärt Hell und bezeichnet die Scham gerne als «Regulatorin der menschlichen Kommunikation». Wenn wir uns schämen, zeigen wir dies an. Mit Erröten, Kopf abwenden, Senken des Blickes. Das signalisiert: «Ich bin mir meines Fehlverhaltens bewusst». Dies wird vom Gegenüber wahrgenommen. Sich kleine Fehler eingestehen und sich dabei Schämen scheint etwas Verbindendes zu haben. Deshalb könnte sich gemäss Hell die Scham evolutiv durchgesetzt haben: «Ohne diese Feinfühligkeit wäre die menschliche Zusammenarbeit, das Entwickeln von Gedanken und das Suchen von Lösungen schwieriger gewesen.»

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Tatsächlich haben neurobiologische Untersuchungen gezeigt, dass jemandem Verfehlungen eher verziehen werden, wenn er Scham zeigt. Der kanadische Professor für evolutive Psychologie, Daniel Sznycer ist der Ansicht, dass während der menschlichen Entwicklung das Zusammenleben in der Gruppe immer wichtiger wurde, weil das Überleben alleine schwierig war. So war es für ein Individuum notwendig, von seiner Gemeinschaft anerkannt und nicht wegen Fehlverhaltens ausgestossen zu werden. Machte es also einen Fehler, wurde ihm eher verziehen, wenn es Scham zeigte.

Scham ist universell

Obwohl die Auslöser für Schamempfinden stark kulturell geprägt sind, ist die Scham selbst ein universell menschliches Gefühl. Sznycer und seine Kollegen zeigten dies anhand einer Studie in 15 verschiedensten Gemeinschaften. Von nomadisch lebenden Mongolenstämmen über Fischer in Japan bis zu indigenen Völkern in Ecuador: Alle kennen Scham und zeigen die gleichen Reaktionsmuster. Die Forschenden bezeichnen die Scham dementsprechend als «ein universelles System, ein Teil der kooperativen Biologie unserer Spezies.»

Neurobiologisch entsteht das Schamempfinden einerseits durch die Aktivierung unbewusster, intuitiver Strukturen wie dem limbischen System. Diese evolutiv alten Hirnareale regulieren auch basale Gefühle wie Angst oder Freude. Andererseits spielt bei der Scham zusätzlich der kognitiv komplexe Stirnlappen eine zentrale Rolle. Er ist beim Menschen stark ausgeprägt und verantwortlich für die Selbsterkenntnis und die Fähigkeit, eigene Taten in einem Kontext zu beurteilen. So stellt die Scham also auch immer die Fragen «Wer bin ich? Was will ich? Was finde ich gut und schlecht?»

Also nur nicht aus der Reihe tanzen und wenn doch, sich tüchtig dafür schämen? «Ja», sagt Daniel Hell, «auf der einen Seite hat Scham etwas Anpasserisches». Andererseits setze Scham aber auch Grenzen für Intimität und Privatsphäre, für das Ich. «Wer sich schämt, realisiert sehr stark seine Eigenheiten und muss sich damit auseinandersetzen», verdeutlicht Hell. «Scham ist wie ein Sensor, der Alarm schlägt.» Diesen solle man beachten, in sich hinein hören und die Ursache der Scham bei der Wurzel packen. Hell ist der Meinung, dass Scham abzuwehren auch heisst, «den Sensor auszuschalten und so eine Situation nicht richtig zu erkennen und einzuschätzen.»

Beschämungskultur und Scham en vogue

Das Schamempfinden kann auch ausgenutzt werden. So werden bei medialen Shitstorms sich Schämende blossgestellt. Sowohl Daniel Hell als auch Brené Brown schreiben in ihren Büchern von langjähriger Erfahrung mit immer mehr Menschen, die sich öffentlich beschämt direkt betroffen und bedroht fühlen.

Selbst in der Rechtsprechung finden moderne Varianten der mittelalterlichen Prangerstrafe wieder Anklang. In den USA beispielsweise, wo Richter vermehrt sogenannte Creative Sentences fällen. Dabei werden kleinere Vergehen mit öffentlicher Beschämung geahndet. Ein Pionier solch «kreativer» Urteile wurde beispielsweise der mittlerweile pensionierte Richter Michael Cicconetti aus Painesville, Ohio. Sein vielleicht berühmtester Schuldspruch galt drei Männern, welche eine Prostituierte für Sex ansprachen, obwohl Prostitution in Ohio verboten ist. Cicconetti verurteilte die Männer dazu, im Hühnerkostüm auf dem Dorfplatz von Painesville Schande zu stehen. Dazu trugen sie Schilder mit der Aufschrift «No chicken ranch in our city» in Anspielung an das berüchtigte, texanische Bordell «Chicken Ranch». Diese und viele weitere öffentliche Beschämungen wurden oftmals von den Medien begleitet und Videos davon tausendfach im Netz verbreitet.

Umgekehrt scheint aber auch ein neues Besinnen auf die Scham aufzukommen. So ist die Flugscham spätestens seit Greta Thunbergs Atlantikübersegelung in aller Munde. Ob solch neuartige Schamformen wie Flug- oder Fleischscham neurobiologisch gleich gewickelt sind wie die herkömmliche Scham, ist noch nicht erforscht. Doch Daniel Hell glaubt, dass dies durchaus der Fall sein könnte. Denn auch Schuld kommt zu grossen Teilen kognitiv ähnlich zu Stande wie Scham und mag bei der Flugscham mitschwingen. Ganz klar sagt er dazu: «Ich finde es gut, dass es eine kleine Scham-Renaissance gibt».

Hat diese Wiedergeburt der Scham das Potenzial zur Änderung von Lebensweisen? Tatsächlich war die Anzahl Flüge über den Flughafen Zürich im Winter 2019/2020 im Vergleich zu den Vorjahren leicht rückläufig. Bei genauerem Hinschauen fällt allerdings auf, dass Gründe dafür auch die bessere Sitzplatzauslastung und das Einsetzen von grösseren Flugzeugen sein könnten, was die Flughafen AG auf Anfrage bestätigt. Ob uns die Flugscham also wirklich zum weniger Fliegen bewegen kann, wird sich erst noch zeigen müssen.

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