Das musst du wissen

  • Die Schmerzverarbeitung von Frauen und Männern ist unterschiedlich – und auch sozial geprägt.
  • Die grosse Mehrheit an Studien über Schmerz basiert auf Daten von männlichen Versuchstieren.
  • Trotz eingeführter Richtlinien profitieren Frauen weniger stark von den Forschungsresultaten als Männer.

Männer leiden anders als Frauen. Und umgekehrt. Frauen sind zum Beispiel häufiger von chronischen Schmerzen wie Kopfweh, Rückenschmerzen oder Arthritis betroffen. Weshalb? Das ist hoch umstritten. Es gibt Forschung, die zeigt, dass Frauen auf Schmerzen körperlich sensibler reagieren, dass es also biologische Unterschiede in der Verarbeitung gibt. Genetisch, chemisch, zellulär bestimmte Unterschiede. Andere sehen die Ursache in gesellschaftlichen Gründen, welche die Studienergebnisse verzerren: Frauen geben Schmerzen eher zu. Und dabei sind wir beim Problem angelangt: Die Schmerzforschung ist, was Frauen und Männer angeht, sehr komplex. Jahrzehntelang standen zudem Untersuchungen an männlichen Versuchstieren im Fokus der Schmerzforschung. Das hatte gravierende Konsequenzen: Schmerzmittel wurden für männliche Körper entwickelt.

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Wissenschaftliche Ergebnisse in diesem Feld sind auch heute noch meist relevanter für Männer als für Frauen. Zu diesem Schluss kommt Jeffrey Mogil, Professor für Schmerzforschung an der McGill Universität in Montreal, in seiner Übersichtsstudie, die nun im Fachmagazin Nature Reviews Neuroscience erschienen ist.

Dieser Missstand geht auf eine Annahme zurück: Lange dachten Wissenschaftler, die medizinischen Daten von weiblichen Tieren wären wegen ihres hormonellen Zyklus variabler, das heisst, sie müssten mehr Weibchen untersuchen als Männchen, um ein statistisch aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten. Diese Annahme gilt allerdings als wissenschaftlich widerlegt, wie Douglas Fields Neurologe am National Institutes of Health (NICHD) schreibt. Zwar beeinflusst der weibliche Hormonhaushalt die Schmerzverarbeitung, aber die Variabilität in den Daten ist dadurch in Weibchen nicht grösser als in Männchen. In diesem Irrglauben führten Forschenden dennoch rund 80 Prozent ihrer Tests ausschliesslich an männlichen Laborratten durch. Zumindest lassen das die Artikel schliessen, die zwischen 1996 und 2005 in der Fachzeitschrift Pain zu diesem Thema erschienen sind und die nun Forscher Mogil analysiert hat.

Science-Check ✓

Studie: Qualitative sex differences in pain processing: emerging evidence of a biased literatureKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsTatsächlich kann dieser Übersichtsstudie selbst auch Einseitigkeit vorgeworfen werden: Sie gründet ausschliesslich auf Artikeln, die in nur einem Fachmagazin erschienen sind. Amerikanische Studien machen einen grossen Teil davon aus, rund 40 Prozent. Ob die Ergebnisse generalisierbar sind, ist also unsicher.Mehr Infos zu dieser Studie...

Das Problem wurde nach der Jahrhundertwende erkannt: So wurde die Finanzierung von Schmerzforschung in Kanada ab 2006 an eine Bedingung gebunden: Nur, wenn die Forschenden in ihren Experimenten auch weibliche Probanden berücksichtigen, erhalten sie die Gelder für ihre Arbeit. Auch die USA und Schweden führten solche Richtlinien später ein. Dieser Schritt blieb nicht wirkungslos: Forschende, die in den genannten Ländern tätig waren, schlossen häufiger beide Geschlechter in ihre Studien ein als Autoren in Ländern ohne diese Richtlinie.

Auf den ersten Blick scheint es also einen vielversprechenden Wandel im Studiendesign gegeben zu haben. Dem Forscher Jeffrey Mogil fiel aber etwas auf: In Studien, die beide Geschlechter behandelten, wurde die Hypothese bei Männchen in 72 Prozent der Fälle bestätigt – aber nur bei 28 Prozent der Weibchen. «Die Hypothesen, welche bei den neuen Experimenten getestet werden, wurden durch Versuchen mit männlichen Tieren entwickelt», sagt Mogil in einer Mitteilung. «Deshalb funktionieren sie bei Männern und nicht bei Frauen.» Auch Schmerzmittel, an denen gerade geforscht wird, werden also bei Männern besser wirken, so Mogil. Schmerzmittel sind noch für Männer gedacht.

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