Als «Göhnerswil» bezeichnete der Volksmund die Trabantenquartiere mit Normwohnungen, welche Ernst Göhner zwischen 1965 und 1975 im Grossraum Zürich errichtete. Rund 9000 Wohnungen erstellte der Zürcher Baulöwe in diesem Zeitraum. Göhnerswil war auch der Titel eines 1972 erschienenen Buches, wel­ches das Geschäftsgebaren Göhners als Sinnbild des kapitalistischen Wohnungs­baus anprangerte.

Wer sich heute mit Göhner und seinem System befasst, ist hin- und hergerissen zwi­schen Faszination und Befremden. Und er kommt nicht umhin zu überlegen, ob Göh­ner nicht tatsächlich das Format eines Gott­lieb Duttweiler hatte. Die beiden waren be­freundet und gründeten zusammen im Jahre 1935 eine neue Partei: den «Landesring der Unabhängigen».

Ernst Göhner Stiftung

Ernst Göhner

Göhners Bestreben war: Die Mieter von Göhner­-Wohnungen sollten für ihr Geld ein Zimmer mehr bekommen als marktüblich. Zudem verblüffen Parallelen zum derzeitigen Bauboom in und um Zürich. Göhner war in gewisser Hinsicht ein Vordenker des verdich­teten Bauens. Er reagierte auf die Wachstums­euphorie der späten Fünfzigerjahre, die mit der florierenden Wirtschaft einherging. Die Bevölkerung wuchs, die Löhne stiegen, der Mittelstand konnte sich grössere und kom­fortablere Wohnungen leisten.

Um 1960 war der Wohnungsmarkt in städtischen Gebieten völlig ausgetrocknet, die Mietzinse schossen in die Höhe, der Sied­lungsdruck in der Peripherie nahm zu. 1967 lancierten die Sozialdemokraten eine Ini­tiative gegen die Bodenspekulation, welche als Vorläufer der Kulturlandinitiative gelten kann. Sie wurde verworfen; doch war der Begriff Zersiedlung erstmals in breiten Kreisen diskutiert worden.

Ernst Göhners Antwort lautete: Plattenbauten. In seiner Fabrik in Volketswil stellte er vorgefertigte Elemente her, die in Windeseile zu Wohnblöcken zusammengefügt werden konnten. Zwischen 1966 und 1975 stammte jede zehnte Neuwohnung in Zürich aus dem Baukasten Göhners. Tau­sende von Familien wuchsen in den genormten Wohnungen auf – zumeist in der Fünfzimmerwohnung: 96 Quadratmeter. Kennzeichen: angeschrägter Balkon, ein begehbarer Schrankraum, Klötzchenparkett; angepriesen als Hausfrauentraum. In einem Prospekt steht: «Für die Frau unserer Zeit ist die Küche ein Arbeitsplatz, an dem man sich wohl fühlen soll.»

Damals waren die Göhner-Siedlungen ein Kinderparadies: Viel Grünraum zwischen den Wohnblöcken, wo man gefahrlos spielen konnte, Gehwege bis zum nahen Kindergarten, keine Autos weit und breit. Zwar besitzt eine prototypische Göhner-Familie einen Kleinwagen, doch dieser steht in der grossen Tiefgarage, die zu jeder Göhner-Siedlung gehört.

Ernst Göhner, 1900 geboren, wuchs als Sohn eines aus Deutschland zugewanderten Glasers im Zürcher Seefeld auf. Mit zwanzig übernahm er nach dem plötzlichen Tod des Vaters den Glaser- und Schreinerbetrieb. Sein Imperium baute er ab 1933 an der Hegibachstrasse 46 auf. «Ernst Göhner wird zu allem fähig betrachtet», heisst es in einer nachrichtendienstlichen Depesche aus der Zeit. Göhner wurde in den Dreissigerjahren geheimdienstlich durchleuchtet, weil man ihm Nähe zum Hitler-Regime nachsagte.

Gleichzeitig galt er als Strohmann des jüdischen Sozialistenführers Léon Blum, der offenbar in Zürich Liegenschaften für jüdi­sche Marxisten ankaufen wollte. Erhärten lässt sich weder das eine noch das andere.

Göhners Leidenschaft galt dem Plattenbau, mit dem er das durchaus humanitär mo­tivierte Ziel erreichen wollte, bessere Woh­nungen zu günstigeren Preisen anzubieten.

Dass diese auch Rendite abwerfen sollten, verstand sich für den gewieften Geschäftsmann von selbst. Das System Göhner bestand darin, vom Landerwerb bis zur Woh­nungsausstattung alles selbst zu machen – und zu rationalisieren. Göhner stellte in Vol­ketswil eine Fabrik auf, die Elemente für jährlich 1000 Wohnungen herstellte; also mussten diese auch gebaut werden.

So schickte er Mittelsmänner aus, um grosse Baulandflächen zusammenzukaufen – im Umkreis von 20 bis 30 Kilometern; denn die Transportwege sollten kurz sein. In Greifensee bot der Landkäufer den Bauern 45 Franken pro Quadratmeter. Sein Argument war bestechend: «Heute ist Freitag; wenn Sie wollen, sind Sie am Montag Millio­när.» Sperrte sich die Gemeinde, schaltete sich der Kanton ein, da er sich von Göhners Bautätigkeit eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt versprach.

Ernst Göhner AG 1965 bis 1975

So präsentierte Göhner die Siedlungen in Werbeprospekten.

Der Grundriss der Siedlungen war stets so angelegt, dass sie von einer einzigen Kran­position aus gebaut werden konnten. Das verkürzte die Bauzeit. In der Mietzinskalkulation schlug sich jedes Umstellen der Kran­bahn mit 90 Rappen auf den Monatszins nieder. Neben den Plattenelementen produzierte Göhner genormte Türen, Fenster, Küchen­ und Wandschränke, und er entwickelte das Klötzchenparkett. Ein Montageteam aus einer Handvoll Arbeiter baute pro Tag eine komplette Vierzimmerwohnung. Der Architekt und Autor Benedikt Loderer, der als Bauzeichner zwei Jahre bei Göhner arbeitete, wird im Buch Göhnerswil mit dem Satz zitiert: «Mich faszinierte die industrielle Produktion der Göhner­-Bauten; auch wenn sie mir ästhetisch nie gefielen.» Die Göhner­-Siedlung «Sonnhalde» in Adlikon wurde 1972 von einer Delegation Wohnbeauftragter aus der DDR und der UdSSR be­sucht, die vom göhnerschen Plattenbau lernen wollte.

«Mich faszinierte die industrielle Produktion der Göhner-Bauten; auch wenn sie mir nie gefielen.»Benedikt Loderer, Architekt und Autor

Ernst Göhner war ein Patron, wie er im Buche steht: Selbstherrlichkeit gepaart mit sozialem Verantwortungsgefühl. Man traf ihn in der Fabrikkantine an, und wenn ein junger Architekt ihn von einer Idee überzeugte, öffnete er den Tresor und drückte ihm ein Bündel mit siebzig Tausendernoten in die Hand, damit er diesen Vorschlag vertiefen konnte. Eine Quittung verlangte er nicht.

«Wir haben jetzt besprochen, was zu tun ist.» 1971, kurz bevor er auf seinem Landgut in Risch am Zugersee starb, verkaufte er seine Firma an die Elektrowatt. Die meisten Siedlungen gehörten bereits Versicherungsge­sellschaften oder Privaten. Göhners Privatvermögen ging in die Ernst­-Göhner­-Stiftung über, die heute eine der wichtigsten gemeinnützigen Stiftungen der Schweiz ist.

Doch mit der Göhner AG ging es abwärts. Loderer kommentiert: «Die von der Elektrowatt eingesetzten Generaldirektoren wechselten mit den Jahreszeiten und bliesen den Pioniergeist aus…» Es kamen die Öl­krise und der darauffolgende wirtschaftliche Niedergang. Die Firma traf es hart. 1978 schloss das Werk in Volketswil. Hochhäuser und Grosssiedlungen kamen in Verruf; es begann der Traum vom Häuschen im Grünen.

Ein Augenschein in «Göhnerswil» zeigt heute: Die Spielplätze sind oft leer; die Göhner-­Siedlungen sind im Umbruch. Der Ausländeranteil wächst, der Anteil an Pensio­nierten ist gross. Die Göhner-­Kinder der ersten Generation sind ausgezogen; die Eltern sind in ihren normierten Fünfzimmerwohnungen für rund 1500 Franken Monatsmiete geblieben. Greifensee, wo zwei Drittel der Wohnungen Göhner-­Bauten sind, gehört zu den Gemeinden mit dem höchsten Durchschnittsalter im Kanton. Doch die Bausubstanz selbst hat sich bewährt: Bisher wurde noch keine einzige Platte demontiert.

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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