Um ihren Haarausfall zu behandeln, wünschte sich die Patientin ein bestimmtes Aufbaupräparat auf natürlicher Basis. Bei ihrer Schwester habe das Mittel gut gewirkt. Für die behandelnde Ärztin Kai Berger war das eine schwierige Situation: Die Wirksamkeit des Produkts ist wissenschaftlich nicht erwiesen. «Ich musste versuchen, meine Meinung zurückzuhalten», sagt Berger. Denn ihr ist bewusst: Je mehr jemand an ein Mittel glaubt, desto besser wirkt es. Diesen Placebo-Effekt wollte Berger unterstützen. Da die Frau nicht wegen einer ernsthaften Erkrankung Haare verlor, hielt die Ärztin es für verantwortbar, ihrem Wunsch zu entsprechen. «Wenn das Ihrer Schwester geholfen hat, finde ich es eine gute Idee», beschied sie ihr und stellte ein Rezept aus. Nun versuchte es die Frau zunächst mit diesem Präparat.

Placebo-Effekt ist Teil jeder Behandlung

«Erwartungen und Befürchtungen der Patienten spielen eine wichtige Rolle dabei, wie gut eine Behandlung wirkt», sagt der Zürcher Neurowissenschaftler Peter Krummenacher. Er befasst sich seit langem mit dem Placebo-Effekt. Dabei handelt es sich um körperliche Reaktionen auf Mittel, die keinen Wirkstoff enthalten. Zahlreiche Studien haben gezeigt, wie stark Menschen auf Suggestion ansprechen. So konnten Forscher etwa nachweisen, dass teilweise dieselben Hirnareale aktiv sind, wenn jemandem statt eines starken Schmerzmittels ein Scheinmedikament ohne Wirkstoff verabreicht wird. Doch nicht nur Tabletten, sondern auch Scheinbehandlungen und sogar die Art und Weise, wie Ärzte kommunizieren, können eine Placebo-Reaktion auslösen.

Das spielt auch in der Praxis eine Rolle: «Der Placebo-Effekt ist auch bei den meisten wissenschaftlich erprobten Behandlungen stets Teil der Wirkung», sagt Neurowissenschaftler Krummenacher. Bereits die Erwartung, dass ein Mittel heilt, führe zur Ausschüttung körpereigener Stoffe wie etwa schmerzlindernder Endorphine. «Wenn Fachleute diese Vorgänge geschickt nutzen, müssen sie weniger Medikamente verabreichen. Das senkt sowohl die Nebenwirkungen als auch die Therapiekosten.»

Um die Erkenntnisse aus der Wissenschaft in die Praxis umzusetzen, hat Krummenacher die Firma Brainability gegründet. Mit dieser bietet er Workshops für Fachleute wie Ärzte, Pflegende und Apotheker an. Sie lernen, wie sich mit geeigneter Kommunikation die Genesung fördern lässt. «Viele Ärzte können ihre Behandlung verbessern, indem sie empathisch sind, auf Befürchtungen der Patienten eingehen sowie Worte, Mimik und Gestik bewusst einsetzen», sagt Krummenacher.

Insbesondere bei Kindern spielt es eine grosse Rolle, wie ihnen eine bestimmte Behandlung erklärt wird. Krummenacher hat kürzlich die weltweit erste Placebo-Studie an gesunden Kindern abgeschlossen. Gemeinsam mit Kollegen konnte er zeigen, dass Sechs- bis Neunjährige weniger hitzeempfindlich sind, wenn man ihnen eine blaue Salbe ohne Wirkstoff auf den Arm streicht. Ein Gerät auf dem Unterarm der 49 Probanden wurde stetig wärmer. Die Kinder konnten einen Stoppknopf drücken, sobald es ihnen zu heiss wurde.

Suggestion senkt das Schmerzempfinden

Der einen Gruppe sagten die Forscher, die blaue Salbe sei nötig, um die Hitzeempfindlichkeit genauer zu messen. Den Kindern der zweiten Gruppe suggerierten sie hingegen eine stark schmerzstillende Wirkung. Daraufhin hielten diese höhere Temperaturen aus. «Die Ergebnisse waren eindrücklich», sagt Krummenacher. Der Effekt sei zudem klarer ausgefallen als bei ähnlichen Studien mit Erwachsenen. «Kinder haben viel Fantasie und sind empfänglich für Geschichten.» Dies könnten sich etwa Anästhesisten zunutze machen, um kleinen Patienten die Angst vor einer Operation zu nehmen. Zum Beispiel, indem sie ihnen beim Verabreichen des Narkosemittels sagen: Du erhältst jetzt ein Zaubermittel und reist auf einem fliegenden Teppich ins Traumland.

Oft ist der Einsatz von Placebos aber ethisch fragwürdig. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Arzt seinem Patienten Pillen ohne Wirkstoff verabreichen würde, ihn aber glauben macht, es handle sich um ein richtiges Medikament. «Man sollte die Patienten nicht täuschen, ihnen falsche Hoffnungen machen oder eine wirksame Behandlung vorenthalten», warnt Krummenacher. Gemäss einer Umfrage der Universität Zürich behelfen sich viele Hausärzte deswegen mit sogenannten Pseudoplacebos: Sie verschreiben harmlose Mittel wie etwa Vitaminpräparate oder Salben. Damit kommen sie dem Wunsch vieler Patienten nach einem Medikament nach. Gleichzeitig erzielen sie in der Regel einen therapeutischen Erfolg. Denn auch wenn bei den jeweiligen Beschwerden des Patienten die Wirkung des Mittels nicht nachgewiesen ist, tritt der Placebo-Effekt ein und kann so den Heilungsverlauf günstig beeinflussen.

Angst vor Nebenwirkungen kann krank machen

Neben dem positiven Placebo-Effekt kann es durch Fehler in der Kommunikation aber auch zu schädlichen Effekten kommen. Wenn Ärzte beispielsweise sämtliche mögliche Nebenwirkungen eines Medikaments aufzählen, verunsichern sie ihre Patienten. Dennoch sind sie zu einer sorgfältigen Aufklärung über Risiken verpflichtet. Ein Dilemma, das Ärztin Kai Berger gut kennt. Etwa, wenn sie Frauen über mögliche Komplikationen der Verhütungspille informieren muss. Dann versucht sie ihnen die Angst zu nehmen, indem sie erklärt, wie selten Thrombosen bei gesunden, jungen Nichtraucherinnen ohne familiäre Vorbelastung sind. Trotz hoher Arbeitsbelastung will sich die Ärztin dafür Zeit nehmen. Denn sie weiss: «Für den Behandlungserfolg ist eine sorgfältige Kommunikation entscheidend.»

Die Erstversion dieses Beitrags erschien am 10. Februar 2017.
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