Das musst du wissen
- Bei niedrigen Fallzahlen sinkt die Genauigkeit von Ergebnissen von Corona-Schnelltests.
- Anlassloses Screening der Bevölkerung ist bei tiefen Fallzahlen nicht sinnvoll.
- Der effizienteste Weg aus der Pandemie geht nun über Impfungen.
Auf einmal sind sie da, und zwar in Massen: die Schnelltests. Jeder Schweizer und jede Schweizerin erhält fünf im Monat kostenlos und viele Betriebe testen ihre Angestellten regelmässig. Lässt sich die Pandemie also mit massenhaften Tests endgültig in den Griff bekommen?
«Die Schnelltests kommen viel zu spät. In der jetzigen Phase der Pandemie ergibt eine solche Strategie keinen Sinn mehr», sagt Didier Trono, Epidemiologe an der EPFL Lausanne und Mitglied der Covid-Taskforce.
Denn was für viele nicht intuitiv ist: Wie zuverlässig das Ergebnis eines Corona-Tests statistisch gesehen für einen Einzelnen ist, hängt nicht nur von der eigenen Virenlast, der Art der Probenentnahme und dem Zeitpunkt der Erkrankung ab, sondern auch davon, wie viele Mitbürger infiziert sind. Daraus errechnet sich die so genannte Vortest-Wahrscheinlichkeit: Wie wahrscheinlich ist es statistisch gesehen, dass eine Person infiziert ist? Diese Wahrscheinlichkeit sinkt gegenwärtig, weil immer mehr Leute geimpft sind und die Fallzahlen sinken – und damit wächst ein Problem: «Tests werden in Zukunft immer mehr falsch positive Ergebnisse haben», sagt Didier Trono.
Sensitivität, Spezifität und Vortest-Wahrscheinlichkeit
Tests auf das neuartige Coronavirus werden nämlich immer ungenauer – und insbesondere falsch positiv – je niedriger die Fallzahlen und damit auch die Vortest-Wahrscheinlichkeit in der betrachteten Region sind. Das betrifft alle Tests: Selbsttests, Antigentests in der Apotheke und in Testzentren sowie PCR-Tests.
Nehmen wir als Beispiel einen Antigen-Schnelltest mit einer Sensitivität von achtzig Prozent und einer Spezifität von 98 Prozent. Die Sensitivität ist der Anteil der Personen mit «korrektem» positivem Testergebnis, also der Anteil der tatsächlich Infizierten. Die Spezifität ist der Anteil der Personen mit «korrektem» negativem Testergebnis. Das heisst in unserem Beispiel: Achtzig Prozent der Infizierten sowie 98 Prozent der Nicht-Infizierten werden vom Test richtig erkannt. Das heisst aber auch: Zwanzig Prozent sind falsch negativ und zwei Prozent sind falsch positiv.
Das ist aber noch nicht alles, denn diese Werte werden durch die Vortest-Wahrscheinlichkeit beeinflusst. Das British Medical Journal bietet eine interaktive Infografik an, bei der man mit den Zahlen spielen und sehen kann, wie sich die Genauigkeit eines Ergebnisses verändert abhängig von der Vortest-Wahrscheinlichkeit (pre-test probability) und den Testvariablen.
Bei hohen Fallzahlen heisst das: Wenn beispielsweise 1000 von 10 000 Menschen in der Bevölkerung tatsächlich infiziert sind – die so genannte Vortest-Wahrscheinlichkeit beträgt damit zehn Prozent – erkennt der Schnelltest also 800 dieser 1000 Infizierten richtig, während er bei 200 der 1000 Infizierten die Ansteckung nicht erkennt.
Von den 9000 Nicht-Infizierten werden hingegen 8820 richtig als negativ identifiziert, während 180 von diesen ein falsch-positives Ergebnis erhalten.
Die Ursachen für falsch-positive Ergebnisse von Schnelltests
Bei niedrigeren Infektionszahlen sieht es hingegen ganz anders aus: Sind hier beispielsweise nur fünf von 10 000 Getesteten tatsächlich infiziert – die so genannte Vortest-Wahrscheinlichkeit beträgt also 0,05 Prozent – erkennt der Schnelltest vier der fünf Infizierten richtig, bei einem liefert er ein falsch negatives Ergebnis.
Ein Problem entsteht hier aber bei den falsch positiven Ergebnissen: Von den 9995 nicht Infizierten erkennt der Test 9795 richtig als negativ – 200 aber erhalten ein falsch positives Ergebnis. Von 204 positiven Ergebnissen sind also nur vier korrekt. Das heisst: Lediglich in 1,9 Prozent der Fälle ist der Betroffene tatsächlich positiv. 200 würden unbegründet in die Quarantäne geschickt – oder zum PCR-Test.
«Je weniger Fälle in der Bevölkerung auftreten, umso sicherer ist ein negatives Testergebnis aber umso unsicherer ein positives», sagt Trono. Wer also bei tiefen allgemeinen Fallzahlen ein negatives Ergebnis hat, ist zwar ziemlich sicher nicht infiziert. Wer hingegen ein positives Testergebnis hat, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht positiv und wird fälschlicherweise in Quarantäne geschickt. Und wenn das in Massen geschieht, ist das ein Problem. «Es ergibt deshalb derzeit keinen Sinn, grosse Teile der Bevölkerung anlasslos zu testen», so Trono.
Anlasslos, das heisst: bei Menschen ohne Symptome. Denn in dieser Gruppe ist die Vortest-Wahrscheinlichkeit noch geringer – schliesslich sind darin weniger Infizierte vorhanden als in einer vergleichbaren Gruppe von Menschen mit Symptomen. Und auch falsch negative sind hier wahrscheinlicher, da Schnelltests eine beginnende Infektion meist nicht feststellen.
Dennoch empfiehlt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Schnelltests sowohl bei Symptomen als auch für Symptomlose. Und es werden derzeit die Erfolge von Massenscreenings der Bevölkerung gefeiert. Nicht nur in Graubünden geht man davon aus, dass die Fallzahlen aufgrund der Massentest-Strategie gefallen sind – in beteiligten Betrieben beispielsweise um fünfzig Prozent –, auch ein aktueller Artikel in der Fachzeitschrift «Science» zeigt die Erfolge einer ähnlichen Strategie in der Slowakei.
Science-Check ✓
Studie: The impact of population-wide rapid antigen testing on SARS-CoV-2 prevalence in SlovakiaKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Autoren modellieren den Effekt von Massen-Antigen-Schnelltests im Herbst 2020 in der Slowakei. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der dortige Rückgang der Fallzahlen um siebzig Prozent nicht allein durch den dortigen Lockdown erklärt werden kann, sondern ein Effekt der schnellen Isolierung positiv Getesteter ist. Diese Studie kann lediglich eine Korrelation feststellen, Kausalität aber nicht beweisen. Gerade im Falle der Massnahmen gegen das neuartige Corona-Virus beeinflussen viele verschiedene Faktoren die Infektionszahlen, die nicht voneinander getrennt werden können. Die Resultate der Studie müssen deshalb von weiterer Forschung bestätigt werden.Mehr Infos zu dieser Studie...Die Forschenden unter anderem der London School of Hygiene and Tropical Medicine werten darin Zahlen vom Herbst aus: Dort hatte man im Oktober und November in den untersuchten Gebieten 65 Prozent der Bevölkerung getestet und damit innerhalb einer Woche die positiven Tests auf die Hälfte reduziert. Gleichzeitig gab es allerdings einen Lockdown, in dessen Rahmen unter anderem weiterführende Schulen und Restaurants geschlossen waren, so dass es nicht einfach ist, die Wirkung der Massnahmen voneinander zu trennen.
Viele Faktoren beeinflussen die Pandemie
Didier Trono warnt allerdings davor, gesunkene Zahlen wie die in Graubünden kausal auf die Teststrategie zurückzuführen. «Es ist nicht klar, ob die Tests tatsächlich verantwortlich sind dafür, dass die Zahlen gesunken sind», sagt er. Wer so eine Aussage seriös treffen wolle, der brauche eine Kontrollgruppe – also eine Bevölkerungsgruppe mit gleichen Randbedingungen, nur ohne Teststrategie. Da viele verschiedene Faktoren in die Entwicklung der Pandemie mit einfliessen, gibt es aber naturgemäss keine Kontrollgruppe, bei der alle anderen Faktoren gleich sind. «Vor allem sind die Zahlen in der Schweiz nicht konstant, die Infektionen könnten in Graubünden auch einfach aufgrund des allgemeinen Trends gesunken sein.»
Man könnte nun der Meinung sein: Ist ja egal, zumindest schadet es nicht. Andererseits steckt der Bund viel Geld in solche Teststrategien. Ist das gerechtfertigt? BAG-Sprecher Jonas Montani verteidigt die Strategie auf higgs-Nachfrage: «Der Zusammenhang beispielsweise in Graubünden zwischen viel testen und weniger Ansteckung ist ganz eindeutig: Dort, wo wir systematisch testen, sind die Fallzahlen niedriger.»
Gerade die so genannte repetitive Testung nach dem Vorbild von Graubünden, die inzwischen in vielen Kantonen wöchentlich oder öfter stattfinde und vom Bund bezahlt werde, sei ein zentraler Pfeiler der Pandemiebekämpfung neben der Testung symptomatischer Personen. Die Selbst-Schnelltests seien lediglich eine Ergänzung in der Hoffnung, symptomlos Infizierte mit hoher Virenlast zu aufzuspüren.
Wären bessere Schnelltests eine Lösung? «Die Sensitivität von Schnelltests müsste sehr viel höher sein, um sie zu einem geeigneten Screeningtool zu machen», sagt Michael Neumaier, der Leiter des Instituts für Klinische Chemie am Universitätsklinikum Mannheim. In ihrer jetzigen Funktionalität hält er wenig von Schnelltests. Zwar würde mit einer höheren Sensitivität die Zahl der falsch-positiven Ergebnisse stark steigen. Diese würden durch die anschliessende PCR-Testung aber unverzüglich wieder korrigiert und seien so kein Problem. «In dieser Kombination wäre auf negative Ergebnisse von Schnelltest dann Verlass.»
Trono hält nicht viel von solchen Ideen. Wenn es noch mehr falsch-positive Ergebnisse gebe, müsste man sich die Folgen für die Betroffenen vor Augen führen, die dann bis zu einem PCR-Test beispielsweise nicht an ihren Arbeitsplatz können. Zudem wäre je nach Situation der Andrang auf PCR-Tests nicht mehr zu verarbeiten. «Das würde das System lähmen.»
Ein weiterer Faktor, der die Aussagekraft der Schnelltests einschränkt, ist, dass sie auf dem Höhepunkt einer Infektion am besten funktionieren. «Anders als beim PCR-Test gibt es hier keine Amplifikation», sagt er. Das heisst: Die nachweisbaren Bestandteile des Virus werden nicht vermehrt im Testverfahren, was ein Grund für die Schnelligkeit der Auswertung ist.
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Schnelltests sind nur bei Symptomen sinnvoll
Sind Schnelltests also völlig obsolet? Das nicht, sagt Trono. Letztlich brauche es viel Wissen über Schnelltests, um sie sinnvoll anwenden zu können. Wenn Menschen Symptome haben, ergibt ein Test aus seiner Sicht Sinn, weil in dieser Gruppe die Wahrscheinlichkeit von falsch-positiven Ergebnissen geringer ist, und weil es genug Virusmaterial gibt, damit auch Schnelltests eine Infektion messen können.
Der andere Anwendungsfall ist die so genannte Clustererkennung, bei der so genannte Superspreader-Events identifiziert werden. In der Öffentlichkeit wird meist der so genannte R-Wert diskutiert, der Wert also, der besagt, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt. Aber ein anderer Wert ist sehr viel entscheidender bei der Frage, wie die Pandemie bekämpft werden kann: Der Wert k drückt aus, wie gleichmässig sich ein Virus verbreitet. Je kleiner der Wert, umso ungleicher ist die Weitergabe verteilt – umso weniger Menschen verursachen also die Mehrheit der Infektionen.
Superspreader aufzuspüren ist relevant in der Pandemie
Forscherinnen und Forscher der London School of Hygiene and Tropical Medicine haben auf der Basis chinesischer Daten den k-Wert des neuartigen Corona-Virus im Juni 2020 auf 0,1 geschätzt. Die Forscher gehen in ihrem Artikel davon aus, dass damit etwa 80 Prozent der Übertragungen von rund zehn Prozent der Infizierten ausgehen – und raten, sich in der Bekämpfung der Pandemie auf diese so genannten Superspreader zu konzentrieren.
Aufgrund dieser Eigenschaft des Virus bilden sich Cluster. Gehört ein Mensch zum Kreis der Superspreader, steckt er mit grosser Wahrscheinlichkeit gleich mehrere an. Schnelltests könnten trotz ihrer geringeren Genauigkeit einen Hinweis auf solche Cluster geben, da dann viele Menschen einer Gruppe infiziert sind. «Wenn es den Verdacht eines Clusters gibt und die Tests werden in einer semi-professionellen Weise durchgeführt, beispielsweise in einer Schule unter Aufsicht des Lehrers, dann sind Schnelltests sinnvoll», sagt Trono.
Das Virus ganz loszuwerden sei allerdings ohnehin eine Illusion. «Kein Test findet alle Infizierten in kurzer Zeit.» Zero-Covid, also null Fälle, könne von daher kein Ziel sein, es ginge eher darum, das Virus so weit im Griff zu halten, dass es das Gesundheitssystem nicht überfordere. «Wir müssen weiterhin auf jedes Cluster draufspringen», sagt er. Dennoch gebe es Grund zur Hoffnung: «Laut Vorhersage könnten schon Ende Juni siebzig Prozent aller erwachsenen Schweizer ihre erste Impfdosis erhalten haben, Ende Juli die zweite.» Das spiele eine grössere Rolle als Testen.