Eine Schlange von Lastwagen, Geländewagen und Motorrädern, gefangen in einer Baustelle, schiebt sich am Nordufer des St. Moritzersees entlang. Schneebedeckte Berggipfel und luxuriöse Fünf-Sterne-Hotels spiegeln sich auf dem tiefblauen Gewässer.
Am östlichen Ende, wo der Fluss Inn den See verlässt, windet sich ein geflügeltes, schlangenähnliches Objekt, das an einer Brücke angebunden ist, sanft in der langsam fliessenden Strömung.

«Oft müssen wir neugierigen Passantinnen und Passanten erklären: ‹Nein, wir versuchen nicht, Fische zu fangen›», scherzt Dave Elsener. Nach dreissig Minuten zieht der junge Zürcher Wissenschaftler das Manta-Schleppnetz – ein Netzsystem aus Kunststoff und Aluminium – ein, um den heutigen «Fang» zu inspizieren.

Mithilfe von gefiltertem Wasser, Sieben und Eimern waschen er und ein Kollege langsam Sediment, Gras, Blätter und andere Materialien aus, die sich im feinmaschigen Schleppnetz verfangen haben.

«Da, die sehen aus wie Styroporkügelchen», sagt er und zeigt auf winzige weisse Punkte in der dicken braunen Schmiere. Er kratzt die Fragmente in einen versiegelten Plastikbehälter und schüttet eine Probe des Seewassers hinein.

Eine Hand Zeigt auf weisse Kügelchen in trübem Wasser.swissinfo.ch

ETH-Wissenschaftler Dave Elsener zeigt auf das, was er in einer Wasserprobe aus dem St. Moritzersee für Styroporkügelchen hält.

Heute ist der letzte Tag seiner Mikroplastik-«Fischerei-Expeditionen» in der Region St. Moritz. Elsener gehört zu einem Team von Studierenden der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), die in den vergangenen drei Monaten für ein Forschungsprojekt über Mikroplastik Wasserproben im Oberengadin gesammelt haben.

Sie wollen ihre Hypothese überprüfen, dass sich Mikroplastik – Partikel bis zu einer Grösse von 0,1 Millimetern, winziger als das Auge sehen kann – auch in hochalpinen Regionen wie dem Oberengadin im Südosten der Schweiz ablagert.

Für ihr Projekt führten die Forschenden regelmässige Probenahmen an elf Stellen in der Region durch, unter anderem an der Quelle des Inns sowie in den drei Alpenseen von Sils, Silvaplana und St. Moritz.

3 Forschende stehen auf einer Brücke und lassen einen Schlauch in das darunterliegende Wasserswissinfo.ch

An elf Standorten im Oberengadin wurden zwischen Mai und Juli regelmässig Wasserproben entnommen.

In Fischen und auf Bergen

Es sei das erste Mal, dass eine so umfangreiche Mikroplastik-Studie über einen längeren Zeitraum in den Schweizer Alpen durchgeführt werde, sagt Roman Lehner, der die Schweizer Studie betreut. Der Forscher hat die Organisation Sail & Explore Association gegründet, die Mikroplastik-Forschung auf der ganzen Welt betreibt.

«Es ist wichtig, eine Studie in der Schweiz durchzuführen, um zu zeigen, dass das Problem nicht auf die Meere beschränkt ist», sagt Lehner. «Es ist ein globales Problem, das seinen Ursprung auf dem Land und nicht im Wasser hat.»

Studien aus aller Welt haben gezeigt, dass Mikroplastik fast überall vorkommt: im Wasser, im Boden, in Fischmägen, in menschlichen Ausscheidungen – sogar in der Nähe des Gipfels des Mount Everest.

Laut dem Bundesamt für Umwelt landen in der Schweiz jährlich rund 14 000 Tonnen Kunststoff-Abfälle in allen Grössenordnungen in Böden und Gewässern. Die grössten Quellen für Mikroplastik sind Abrieb und Zersetzung von Kunststoff-Produkten – vor allem Autoreifen, Kunststoff-Folien und andere Produkte, die im Bauwesen und in der Landwirtschaft verwendet werden. Zersetzter Abfall ist eine weitere Quelle.

Die Forschung der letzten zehn Jahre hat Mikroplastik in Schweizer Seen und Flüssen im Flachland nachgewiesen. Etwa im Genfersee und im Rhein.

Mikroplastik in der Luft wurde auch in abgelegenen Bergregionen nachgewiesen. Eine Studie aus dem Jahr 2019 fand eine Fülle von Mikroplastik in der Arktis, in Norddeutschland, in den bayerischen und Schweizer Alpen (Davos) und auf der Nordseeinsel Helgoland. Sie zeigte, dass die Fragmente ähnlich wie Staub, Pollen und Feinstaub in die Luft gelangen können, in die Atmosphäre gesaugt und über weite Strecken getragen werden.

Die Forschenden der ETH erhoffen sich von ihrem Engadin-Projekt Aufschluss über das Ausmass des Problems in hochalpinen Regionen.

Das Schleppnetz schwimmt im Wasser.swissinfo.ch

Ein Manta-Schleppnetz schwimmt im Inn, in der Nähe von Celerina.

Gummi, Textilien und Segelstoff?

Auf einer Holzbrücke zwischen Celerina und Samedan sammeln zwei Studierende Proben aus dem Inn, während Menschen in Autos und auf Elektro-Fahrrädern vorbeirasen.

«Es ist schwer vorstellbar, aber wir denken, dass Mikroplastik aus der Atmosphäre kommen könnte – Textilfasern zum Beispiel – oder Reifengummi von Motorrädern oder Autos, das mit dem Regenwasser von den Strassen in die Flüsse und Seen gespült wird», sagt ETH-Studentin Tessa Stuker.

«Wir sind ziemlich sicher, dass wir etwas finden werden.» Die ETH-Leute vermuten, dass auch Fasern und Plastik von Wind- und Kitesurfern auf dem Silvaplanersee abgeschabt werden und ins Wasser gelangen können.

Die feste Überzeugung des Teams basiert zum Teil auf einer früheren Mikroplastik-Studie in der Region, welche die lokale Studentin Anna Sidonia Marugg für ihre Maturaarbeit durchgeführt hat. Ihre Arbeit, die mit dem Preis Schweizer Jugend Forscht 2020 ausgezeichnet wurde, identifizierte 22 verschiedene Arten von Plastik in lokalen Seen und Flüssen.

«Wir glauben oft, dass das Engadin noch sehr natürlich und sehr idyllisch ist, so dass die Leute es nicht mit Mikroplastik-Verschmutzung in Verbindung bringen», sagt Anna Sidonia, die an der Studie der ETH Zürich beteiligt ist.

«Aber ich denke, es ist etwas, worüber wir uns Sorgen machen sollten, weil der Lunghinsee [die Quelle des Inns] eine der grössten europäischen Wasserscheiden ist; sein Wasser fliesst ins Mittelmeer, ins Schwarze Meer und in die Nordsee.»

2 Forscherinnen hocken auf einer Wiese und bearbeiten Wasserproben.swissinfo.ch

Wissenschaftlerinnen der ETH Zürich bereiten eine Wasserprobe aus dem Inn auf.

Schlamm «verdauen»

Am Ende ihres arbeitsreichen Tages packen die Studierenden ihre Ausrüstung zusammen, bevor sie eine lange Zugfahrt zurück nach Zürich antreten. Die Manta-Schleppnetze werden zerlegt und die Proben sorgfältig verpackt, um sie zur Analyse an die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL) zu schicken.

Dort durchlaufen die Proben einen «Verdauungsprozess», bei dem das organische Material mithilfe von Kaliumhydroxid oder Enzymen aufgespalten wird. Das Ergebnis ist eine Suppe, die gefiltert, erhitzt und getrocknet wird, um das überschüssige Wasser loszuwerden. Mit einem Infrarot-Spektrometer wird das verbleibende Material analysiert.

«Das Gerät gibt uns eine chemische Aufschlüsselung, ob das, was übrig ist, Kunststoff ist oder nicht. Wir können auch genau bestimmen, um welche Art von Kunststoff es sich handelt – ob es eine Faser ist, ein Fragment, ein Pellet oder ein Partikel», sagt Lehner.

Der Forscher konnte bereits einen ersten Blick auf die Proben werfen. Er sagt, er habe keine Fragmente gesehen, die als Plastik herausspringen würden. «Aber wenn es Plastik gibt, werden es wahrscheinlich hauptsächlich Fasern sein», sagt er. Covid-19 und begrenzte Touristenzahlen im letzten Jahr könnten einen Einfluss auf die Ergebnisse gehabt haben, fügt er an.

Mikroplastik auf dem Mont Blanc?

Im Juni sammelte ein französisch-schweizerisches Team von Forschenden Proben aus Gletscherabflüssen in der Mont-Blanc-Region, um die Verschmutzung durch Mikroplastik zu untersuchen.
Das «Clean Mont Blanc»-Team, das an der Erkundungsstudie beteiligt war, verliess am 2. Juni den Bergort Chamonix, um eine 160 Kilometer lange Schleife um den Mont Blanc zu absolvieren und dabei die französischen, italienischen und schweizerischen Grenzen zu überqueren.
Es wurden Proben von den Gletschern Trient, Tour, Argentière und Mer de Glace genommen. Sie werden an der Universität Savoie Mont Blanc in Chambéry, Frankreich, analysiert.

Welche Art von Plastik die Forschenden in den Oberengadiner Gewässern gefunden haben und wie viel davon nachgewiesen werden kann, wird sich im Herbst zeigen, wenn die Ergebnisse vorliegen.

«Alle, die uns hier in Silvaplana ansprechen, sagen uns, dass wir unsere Zeit verschwenden und nichts finden werden», sagt die Zürcher Forscherin Helena Golling und leert den Inhalt ihres Manta-Netzes in ein Sieb. Im Hintergrund rasen Dutzende von Kitesurfern über den schimmernden See. «Aber wir müssen dieses Problem wirklich untersuchen, um zu sehen, was da los ist.»

Dieser Text erschien zuerst bei swissinfo und wurde von Christian Raaflaub aus dem Englischen übertragen.
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