Das musst du wissen
- Bei jeder Hitzwelle, Flutkatastrophe und bei jedem Hurrikan stellt sich die Frage: War das der Klimawandel?
- Die Attribution Science gibt Antwort: Sie berechnet den Anteil des Klimawandels an konkreten Wetterereignissen.
- Die Disziplin könnte Klimaklägern Munition liefern, die CO₂-Verursacher vor Gericht zur Verantwortung ziehen wollen.
Der Sommer 2018 war heiss. Heiss und trocken. Anfangs herrschte Freude über die vielen Sonnentage. Doch mit den Waldbränden, Ernteausfällen und ausgetrockneten Flüssen in ganz Nordeuropa gesellte sich Besorgnis dazu. Und dann, als bis in den Spätherbst ein Hitzerekord den nächsten jagte, die Frage: Ist das jetzt dieser Klimawandel?
Darauf hat Friederike Otto, genannt Fredi, eine Antwort. Die 36-jährige Deutsche leitet das Environmental Change Institute an der Universität Oxford in England. Sie ist eine bedeutende Vertreterin eines Zweigs der Klimaforschung, der gerade Aufwind hat: der Zuordnungswissenschaft oder Attribution Science. Otto und ihre Mitstreiter erforschen den Anteil des Klimawandels an konkreten Wetterereignissen.
Sie kamen zum Schluss: Die menschgemachte Erderwärmung hat die Wahrscheinlichkeit für die europäische Hitzewelle 2018 mindestens verdoppelt. In Kopenhagen sind solche Wetterereignisse sogar fünf Mal häufiger zu erwarten.
«Ich möchte der Wissenschaft das Abstrakte nehmen»
In ihrem im April erschienenen Buch «Wütendes Wetter» beschreibt Otto auf anschauliche Weise die noch junge Geschichte der sogenannten Event Attribution, die ihr ehemaliger Chef Myles Allen 2003 ins Leben gerufen hat. «Ich möchte der Wissenschaft das Abstrakte nehmen», sagt Otto. «Viele denken, Forscher seien Genies, die Probleme mit ihren Geistesblitzen lösen. Dabei ist Wissenschaft ein Prozess voller Versuch und Irrtum.»
Die Idee, den menschlichen Einfluss auf die Erderwärmung zu bestimmen, ist bereits Jahrzehnte alt. Und man kann heute mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent sagen, dass der Mensch den dominanten Faktor der Erwärmung seit 1950 darstellt.
Neu sind die sogenannten Echtzeit-Attributionsstudien für bestimmte Wetterereignisse, die Otto und ihr Team seit 2015 durchführen. Damit können sie Resultate präsentieren, bevor ein Ereignis überhaupt vorbei ist. Aufgrund vorhandener Daten simulieren sie, wie das Wetter an einem bestimmten Ort ohne Klimawandel wäre. Das vergleichen sie mit dem tatsächlichen Wetter und errechnen, zu welchem Anteil der Klimawandel dahinter steckt.
Im Sommer 2017 verwandelte die Hitzewelle mit dem treffenden Namen Lucifer Südeuropa in eine 40 Grad heisse Sauna. Gemäss Ottos Berechnungen ist eine solche Gluthitze durch den Klimawandel mindestens zehn, aber bis zu fast 100 Mal wahrscheinlicher geworden. Wenn man ohne Klimawandel also alle 100 Jahre mit einer solchen Hitzewelle rechnen musste, ist sie nun häufiger als alle zehn Jahre zu erwarten.
Doch was ist mit der Qualität?
Doch die Echtzeit-Studien haben einen Makel: Das Peer-Review, die in der Wissenschaft übliche Qualitätskontrolle durch unabhängigen Experten, fehlt.
Reto Knutti, Professor für Klimaphysik an der ETH, ist skeptisch. «Wir lernen extrem viel über die Wetterereignisse. Aber ein solches Vorgehen kann in Echtzeit nicht die gleichen Qualitätsansprüche erfüllen wie extern geprüfte Studien», sagt er. «Das gibt zwar gute Schlagzeilen. Aber was bringt es, eine Zahl zu präsentieren, die möglicherweise nicht stimmt?» Der renommierte Klimaforscher sitzt im Beirat von Ottos Organisation und berät sie bei ihrer Forschung.
Fredi Otto verteidigt sich: «Weil wir im Fokus der Öffentlichkeit stehen, sichern wir uns besonders gut ab», sagt sie. Man verwende verschiedene Modelle und Methoden, beziehe Forscher der betroffenen Regionen ein und rechne gegenseitig nach. «Unsere Qualitätsstandards sind damit mindestens so gut wie die von Peer-Review-Studien, die sich oft nur auf ein Modell stützen.» Zudem habe man mehrere Echtzeit-Studien mit neuen Daten und Peer-Review wiederholt und ein Jahr später veröffentlicht. Bis jetzt wurden die anfänglichen Ergebnisse jedes Mal bestätigt.
«Wenn keine Wissenschaftler dazu Stellung nehmen, dann tun es andere. Politiker zum Beispiel.»
Otto erklärt, warum es schnell gehen muss: «Bei extremen Wetterereignissen fragen sich die Menschen, ob der Klimawandel eine Rolle spielt», sagt Otto. «Wenn keine Wissenschaftler dazu Stellung nehmen, dann tun es andere. Politiker zum Beispiel.» Da seien Forschende für solche Auskünfte besser geeignet.
Und: «Bei extremen Wetterereignissen werden wir uns unserer Verwundbarkeit bewusst», sagt Otto. «Solche Momente können eine Chance bieten. Es können Entscheidungen getroffen werden, wie man sich gegen künftige Ereignisse dieser Art wappnet.» Dafür sei es wichtig, zu wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit solche Katastrophen künftig auftreten.
Munition für Klimakläger
Die Attribution Science schlägt Wellen, die für die Ölriesen zum Tsunami werden könnten: bei Klimaklagen. Immer wieder versuchen Opfer von Wetterkatastrophen, die Verursacher der Erderwärmung zur Rechenschaft zu ziehen. Die meisten scheitern – in der Regel mit der Begründung, dass ein Kausalzusammenhang nicht bewiesen werden könne.
Kristian Lauta ist ein dänischer Jurist, der mit Otto zusammenarbeitet. Er sagt: «Fredis Modell bietet Klägern solide wissenschaftliche Argumente, um die Verbindung von Unternehmen zu spezifischen Wetterereignissen herzustellen.» Bis jetzt wurde zwar noch keine Attributions-Studie vor Gericht zitiert – aber das sei nur eine Frage der Zeit, so Lauta.
Trotzdem wird es knifflig. Johannes Reich, Klimajurist an der Universität Zürich, sagt: «Sogar wenn man einzelnen Unternehmen eine Teilschuld an der globalen Erwärmung nachweisen kann, ist ihr Beitrag an einzelnen Schäden sehr gering.» So lohne sich eine Klage für Geschädigte nicht.
Für Luftverschmutzung vor Gericht
Weltweit sind rund 900 Klimaklagen im Gang. Eine der aufsehenerregendsten ist die von Saúl Luciano Lliuya. Der Bauer aus Peru klagt gegen den deutschen Energiekonzern RWE. Sein Haus in der Andenstadt Huaraz droht, von einer Flutwelle weggespült zu werden. Ursache ist eine durch den Klimawandel bedingte Gletscherschmelze. Und da RWE mit 0,47 Prozent der globalen CO₂-Emissionen dazu beitrage, soll der Konzern einen Kostenanteil für die Schutzmassnahmen übernehmen. Dass das Oberlandesgericht im deutschen Hamm die Klage Ende 2017 als zulässig erklärt und die Beweisaufnahme angeordnet hat, gilt als Sensation.
Auch in der Schweiz läuft eine Klimaklage: 1400 Frauen im Pensionsalter, die Klimaseniorinnen, möchten den Bundesrat verklagen und ihn dazu bringen, ambitioniertere Reduktionsziele zu gestalten. Das Bundesgericht muss beurteilen, ob ältere Frauen vom Klimawandel besonders betroffen sind – ist das der Fall, ist eine Klage gegen den Bundesrat zulässig. Da es um CO₂-Reduktionsziele und nicht um spezifische Wetterereignisse geht, dürfte die Attribution Science in diesem Fall keine tragende Rolle spielen.
«Dann muss die Politik handeln»
Stellt sich die Frage, ob es wirklich die Aufgabe von Juristen ist, über solche Konflikte zu entscheiden. Der Klimajurist Lauta sagt dazu: «Es braucht globale Vereinbarungen. So lange die Politik untätig bleibt, werden sich die Gerichte mit dem Thema beschäftigen.» Ein juristischer Sieg von Klimaklägern könnte so Signalwirkung haben – «dann ist die Politik gezwungen, zu handeln.»
Dass sich etwas verändert, wünscht sich auch Fredi Otto. «Ich möchte dazu beitragen, dass die Gesellschaft den Klimawandel ernst nimmt», sagt sie. «Dabei aber ein realistisches Bild vermitteln. Etwa, dass er uns nicht alle morgen umbringt und alles hoffnungslos ist», sagt sie. «Wir können etwas dagegen tun.»