Das musst du wissen
- In den letzten Jahren etablierte sich beim Profiling von Attentätern das Bild des einsamen Einzeltäters.
- Aber genau dieses Bild ist problematisch, wie eine Studie zeigt. Auch Einzeltäter sind Teile von sozialen Netzwerken.
- Attentäter bekommen von diesen Netzwerken oft ideologische und logistische Unterstützung für ihre Anschläge.
Vor genau neun Jahren – Am 22. Juli 2011 – starben 77 Menschen in Norwegen einen gewaltsamen Tod. Der Rechtsextremist Anders Breivik tötete im Regierungsbezirk von Oslo acht Menschen mit einer Autobombe, um dann auf die Insel Utøya zu fahren und im Zeltlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation «Arbeidernes Ungdomsfylking» weitere 69 Menschen – darunter viele Kinder und Jugendliche – umzubringen.
Darauf verkündete der amerikanische Präsident Barack Obama, dass Angriffe in der Zukunft wahrscheinlich «eher Einzelkämpfer-Operationen als ein grosser, gut koordinierter Terroranschlag» sein würden.
Das Attentat von Anders Breivik galt als Beweis für das Konzept des «einsamen Wolfes» als Täter. Und tatsächlich wurde dieses Bild In den folgenden Jahren vor allem durch islamistische Extremisten geprägt. Dabei sind weder Breivik, noch die meisten anderen «einsamen Attentäter» wirklich einsam. «Das ist ein Problem», sagt der Kriminologe David Bright: «Das Konzept des Einzelkämpfers richtet bei der Erklärung der Ursachen und Ursprünge terroristischer Akte mehr Schaden an, als das es nützt.» Denn, so Bright weiter, es übersieht wesentliche Aspekte, die zur Radikalisierung späterer Attentäter führen können.
Nun hat ein australisches Forschungsteam die sozialen Netzwerke von den fünf Einzeltätern untersucht, die zwischen 2014 und 2017 in Australien Anschläge verübt hatten. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal «Crime, Law and Social Change» veröffentlicht. Die Forschenden fanden heraus, dass die meisten der untersuchten Attentäter zwar nicht offiziell einer terroristischen Vereinigung angehörten, aber dennoch ein soziales Netz besassen, das sie auf ihrem Weg zu den verübten Taten begleitet oder unterstützt hat. In den meisten Fällen waren dies Einzelpersonen, deren Unterstützung sehr vieles umfassen konnte: von der ideologischen Charakterformung bis hin zum Besorgen von Waffen.
Das Problem bei Untersuchungen dieser Art beginnt schon bei der Begriffsklärung. Denn die Begrifflichkeit «einsame Akteure» oder «einsame Wölfe» stammt nicht aus den Sozialwissenschaften, sondern von Medien, Politik und Strafverfolgungsbehörden. Und sie haben dementsprechend keine klare Definition.
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Die Forschenden ziehen den Begriff «lone actor» vor – also «einsamer Akteur» oder Einzeltäter. Er schafft lediglich den Bezug zur Tat, die bei solchen Tätern eben allein ausgeführt wird. Bewusst schliesst diese Definition die Konnotation der sozialen Isolation aus, die im Begriff «einsamer Wolf» mitschwingt. Denn die Untersuchungen zeigten, dass Einzeltäter in den seltensten Fällen vollkommen sozial isoliert handeln, somit also nicht wirklich «einsame Wölfe» sind.
Um die sozialen Hintergründe solch vermeintlicher Einzeltäter zu untersuchen, erstellten die Forschenden Persönlichkeitsnetzwerke. Ausgehend von den Attentätern selbst, suchten sie nach Personen, die mit ihnen in Verbindung standen. Dabei kristallisierten sich drei Arten von Verbindungen heraus: Familie, Freunde und Geschäftspartner. Diese Personen konnten entweder gar nichts mit dem Anschlag zu tun haben, oder auf eine von drei unterschiedliche Arten daran beteiligt sein: indem sie zur ideologischen Entwicklung der späteren Täter beitrugen, bei der Logistik des Anschlags halfen oder auf beide Arten gleichzeitig mit der Tat in Verbindung standen.
Science-Check ✓
Studie: Exploring the hidden social networks of ‘lone actor’ terrorists.KommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Studie hat trotz ihrer Erkenntnisse eine begrenzte Aussagekraft. Die Identifikation von Attentätern als Einzeltäter erfolgte nicht durch objektive Kriterien, sondern die Forschenden nutzten dazu die Einschätzungen von Gerichten. Ebenfalls von den Gerichten stammte der Grossteil der Informationen über persönliche Beziehungen der Täter. Die genutzten Gerichtsakten können aber durch die Polizeiarbeit und das dahinterliegende Ziel einer Verurteilung beeinflusst sein. Die Stichprobe ist mit fünf Attentätern sehr klein. Fraglich ist auch, inwiefern die Erkenntnisse auf andere Länder oder andere zeitliche Kontexte übertragen werden können.Mehr Infos zu dieser Studie...Die Auswertung des Umfelds dieser fünf Einzeltäter, zeigte, dass zwar alle über ein soziales Netzwerk verfügten, diese aber relativ klein waren. Sie bestanden aus zwei bis maximal vierzehn Personen. Bei vier der fünf Täter spielte das soziale Netz eine Rolle bei den Attentaten, indem es den Attentätern sowohl ideologische als auch logistische Unterstützung bot. Die Intensität dieser Beziehungen variierte allerdings stark.
Ideologischer Einfluss prägend
Alle der untersuchten australischen Täter wurden über Freunde und Familie oder durch direkten Kontakt mit den Ideologien des Islamischen Staats IS geprägt. So griff im Jahr 2014 der achtzehnjährige Australier Numan Haider nur 48 Stunden nachdem der ehemalige Geheimdienstchef des IS, al-Adnani, dazu aufgerufen hatte, Ungläubige mit allen erdenklichen Mitteln zu attackieren, zwei Polizisten mit einem Messer an. Dies war der erste islamistische Anschlag auf australischem Boden. Der Täter trug eine IS-Flagge bei sich, war allerdings nicht Mitglied der Terrororganisation.
Aber nicht nur islamistische Terrorgruppen können die ideologische Grundlage für einen solchen Terrorakt legen. Auch islamfeindliche und ultrarechte Gruppierungen haben starken Einfluss, wie das Beispiel von Anders Breivik zeigt. Der vermeintliche Einzeltäter hat ein Manifest verfasst, das den ideologischen Hintergrund deutlich macht. Und er selbst behauptete während der Gerichtsverhandlungen, Verbündete zu haben, die zu weiteren Anschlägen bereit sind. Ob es diese Verbündeten tatsächlich gibt, ob Breivik also logistische Unterstützung erhalten hat, oder ob er nur ideologisch Gleichgesinnte meinte, ist nicht endgültig geklärt.
Auch der Attentäter von Halle Stephan B., der seit dem 21. Juli in Deutschland vor Gericht steht, wirkt auf den ersten Blick komplett sozial isoliert und wie ein typischer «einsamer Wolf». Aber bereits im Verlauf der Ermittlungen stellte sich heraus, dass er vor allem im Internet auf ein breites soziales Netz zurückgreifen konnte. Dieses unterstützte ihn nicht nur mit dem ideologischen und ultra-rechten Gedankengut der amerikanischen Alt-Right-Bewegung, sondern auch mit den Bauplänen für seine Waffen. Inwiefern noch weitere, auch im analogen Raum existierende persönliche Beziehungen bestanden muss der Prozess allerdings erst noch zeigen.
Einige der untersuchten Attentäter aus Australien haben neben ideologischer eindeutig auch logistische Unterstützung durch ihre sozialen Netze bezogen. Insbesondere half ihnen ihr Umfeld bei der Beschaffung von Schusswaffen, die in Australien seit einem Amoklauf im Jahr 1996 streng reglementiert sind. Die Untersuchung zeigt, dass in den Fällen, in denen Schusswaffen mit logistischer Unterstützung beschafft wurden, mehr Menschen starben als wenn der Täter die Waffen ohne Hilfe besorgen musste.
Falsches Bild führt zu falschen Abwehrmassnahmen
Nur einer der fünf australischen Täter entspricht dem Archetyp des «einsamen Wolfes», darum gehen die Forschenden davon aus, dass er eher die Ausnahme ist. Und sie empfehlen, das Bild des «einsamen Wolfes» zu überdenken, weil es trüge und zu falschen Schlüssen führe. «Wenn wir die terroristische Bedrohung durch Einzeltäter weiterhin für ein Phänomen sozial isolierter, unkommunikativer Menschen halten, riskieren wir, die Gefahr nicht rechtzeitig zu erkennen und Anschläge nicht verhindern zu können», schreibt David Bright, Hauptautor der australischen Studie.
Will heissen: Täter, die mit anderen zur Planung eines Terrorakts zusammenarbeiten, sind einfacher zu identifizieren als heimlich und allein agierende Personen. Das zeigte sich auch am Beispiel Australiens: Während die Anschläge von den fünf untersuchten Einzeltätern nicht verhindert werden konnten, wurden alle Terrorakte, die von organisierten Gruppen geplant wurden, vereitelt, bevor sie ausgeführt werden konnten. Aufgrund ihrer Erkenntnisse gehen die Forschenden davon aus, dass das von ihnen entwickelte System der persönlichen Netzwerkanalyse bei der Prävention von Terrorattentaten helfen könnte. Damit hätten Strafverfolgungsbehörden, die bereits jetzt Social Media überwachen, ein weiteres Mittel zur Verfügung, um potenzielle Einzeltäter besser zu identifizieren – auch, wenn diese nicht zu organisierten Gruppen gehören, sondern nur in deren Einfluss stehen.