Seit die Weltgesundheitsorganisation WHO am 11. März 2020 Covid-19 zur Pandemie erklärt hat, blicken wir auf fast zwei Jahre Krisenmanagement zurück. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Coronavirus sind seither sprunghaft angestiegen – das Wissen allein jedoch reicht nicht, um die Krise zu bewältigen. Denn: Covid-19 ist ein komplexes Problem. Wann braucht es einen neuen Lockdown, eine Impfpflicht? Wann ist die Wirtschaft überfordert, wann die mentale Gesundheit der Bevölkerung, wann das Gesundheitssystem? Für solche Fragen gibt es keine magische Formel und auch oft keine «richtige Lösung». Vielmehr müssen etliche bekannte oder unbekannte Unsicherheiten sowie Interaktionen zwischen diesen berücksichtigt werden.

Florian Egli, BinBin Pearce und Luis Velasco-Pufleau

Florian Egli arbeitet an der ETH Zürich und ist Mitglied der Jungen Akademie Schweiz. In seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit der Rolle des Finanzwesens in der Klimatransformation und der politischen Ökonomie dieser Transformation.

BinBin Pearce forscht am Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH Zürich und ist Mitglied der Jungen Akademie Schweiz. In Ihrer Arbeit konzentriert sie sich darauf, wie verschiedene Interessengruppen und Experten gemeinsam komplexe Probleme im Bereich der nachhaltigen Entwicklung identifizieren und gestalten können.

Luis Velasco-Pufleau arbeitet am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Bern. Er erforscht das Verhältnis von Musik, Ethik und Politik in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

Komplexe Krisen stellen uns vor die Herausforderung des Umgangs mit stark divergierenden Werten und Standpunkten. Denn, für eine politische Entscheidung reicht ein technisches Modell nicht. Für eine faire Verteilung von Impfstoffen durch die Covax-Einrichtung der WHO beispielsweise braucht es neben wissenschaftlichen Modellen vor allem ein gemeinsames Gefühl von Fairness und Vertrauen unter den Partnern. Anders ausgedrückt: Wissen, egal wie unbestritten aus wissenschaftlicher Sicht, wird nicht als legitim, glaubwürdig oder aussagekräftig angesehen, wenn es keine gemeinsame Basis oder kein Vertrauen zwischen Forschenden und der Bevölkerung gibt.

Inspiration zum Aufbau von Vertrauen

Was also schafft Vertrauen? Die Forschung zu kollektiver Improvisation und musikalischer Performance hat gezeigt: Vertrauen kann durch aktives Zuhören, physische Interaktionen zwischen Geist und Körper, gegenseitige Offenlegung und den Austausch von Informationen, Erfahrungen und Risiken aufgebaut werden. Beim gemeinsamen Improvisieren organisieren sich die Musiker als Kollektiv und versuchen, Strategien zu entwickeln, um spontan auftretende Herausforderungen in koordinierter Aktion zu lösen. Kollektive Improvisation kann entsprechend helfen in risikoreichen Situationen die komplexe Koordination verschiedener Akteure zu ermöglichen.

Am Beispiel der norwegischen Seenotrettung in der Arktis, wo militärische und zivile Akteure zusammenarbeiten, konnte gezeigt werden, dass kollektive Improvisationsfähigkeiten zentral sind für die erfolgreiche Ausführung von Übungen. Notsituationen in der Arktis sind von grosser Unsicherheit und Stress geprägt. Gleichzeitig muss eine Vielzahl öffentlicher, privater und freiwilliger Organisationen zusammenarbeiten. Vordefinierte Abläufen sind in solchen Situationen nur begrenzt hilfreich. Vielmehr braucht es ein gemeinsames Training um das Vertrauen zwischen Menschen und Organisationen zu bilden und gemeinsame Erwartungen an die Kommunikation und den Informationsfluss zu klären. So kann ein Kollektiv entstehen, das in Stresssituationen effizient und adaptiv handelt, weil Improvisationsfähigkeiten da sind. Gemeinsames Improvisieren kann also in unterschiedlichen Situationen helfen eine Antwort auf Unerwartetes zu finden. Es erfordert aber sichere Räume ohne Wertung – Räume, die wir auch ausserhalb musikalischer Übungsräume als Gesellschaft schaffen sollten.

In anderen Bereichen hat sich auch gezeigt, dass kooperative Problemlösungsprozesse, bei denen die Bevölkerung frühzeitig einbezogen wird, Vertrauen aufbauen. Repräsentative Bürgerversammlungen zur Erreichung von Netto-Null-Emissionen im Vereinigten Königreich sind ein Beispiel dafür: Führende Fachpersonen tauschten wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema aus, die als Diskussionsgrundlage für eine repräsentative Gruppe von Laien dienten.

Diese Prozesse zur Einbindung der Öffentlichkeit haben zu gemeinsam erarbeiteten Grundsätzen und Visionen für die Verwirklichung einer Netto-Null Gesellschaft geführt und sind direkt in die nationale Politik eingeflossen.

Eine neue wissenschaftliche Denkweise

Traditionell ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben so gut wie keine Erfahrung mit solchen Prozessen und deren Gestaltung ist keine leichte Aufgabe. Forschende müssen dafür in interkulturellen und zwischenmenschlichen Fähigkeiten geschult werden und brauchen eine transdisziplinäre Denkweise. Das bedeutet: Wissen nicht nur wertzuschätzen, sondern auch gemeinsam Probleme lösen zu können und das eigene Handeln zu reflektieren. Anstatt eines linearen Problemlösungsverständnisses mit dem Ziel der wissenschaftlichen Publikation braucht es ein konstantes Bewusstsein für unterschiedliche Perspektiven und die Anerkennung von Differenzen als Arbeitsgrundlage.

Konkret schlagen wir zwei Massnahmen für Veränderungen vor. Nachwuchsforschende brauchen mehr Angebote, um Prozesse zur Vertrauensbildung zu entwickeln. Gewiss, es gibt viele Kurse zu inter- und transdisziplinären Arbeitsweisen und zu komplexen Systemen, doch bleiben sie oft freiwillig und ausserhalb des Curriculums. Darüber hinaus fehlt die akademische Anerkennung dieser Fähigkeiten, da ihre Wirkung nur schwer zu quantifizieren ist. Das wäre aber wichtig, um die nächste Generation von Forschenden auf den Umgang mit komplexen Herausforderungen vorzubereiten.

Die Ausbildung allein wird jedoch nicht ausreichen. Zu oft stehen institutionelle Strukturen innovativen Ansätzen und der Einbindung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Weg. Im akademischen Kontext braucht es darum eine Strukturreform. Zum Beispiel braucht es institutionalisierte Science-Policy Organisationen, die gesellschaftliche Bedürfnisse mit Forschungsfragen, -zielen und -ergebnissen verknüpfen. Aktuelle Policy-Kommunikationsstrategien der Universitäten versuchen diesen Weg zu gehen, bleiben jedoch einseitig. Es wird von der Wissenschaft an die Öffentlichkeit kommuniziert. Ein vertrauensbildender Austausch muss aber gegenseitig sein und die Öffentlichkeit muss entsprechend stärker an der Produktion von Wissen beteiligt werden.

Diese neue Forschungswelt wird automatisch ein Impuls für diversere kulturelle, soziale und bildungsbezogene Hintergründe in der – politischen – Entscheidungsfindung sein. Und diese Diversität ist wiederum direkt ein Pfeiler der Brücke zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Nur so finden wir die besten neuen Ideen und haben auch eine Chance diese umzusetzen.

Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit der Jungen Akademie Schweiz.

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