Eine Frau lässt ihre DNA von einem kommerziellen Unternehmen analysieren. Sie will wissen, aus welcher Region sie kommt. Der Service kostet knapp 200 Franken, das Resultat der sogenannten Ethnizitätsschätzung: 46 Prozent Nord- und Westeuropäerin. Das ist keine Überraschung. Die Familie ihrer Mutter lebt seit Jahrhunderten in der Innerschweiz. Weiter zeigt die Grafik: 23 Prozent Süditalien oder Griechenland. Logisch, ihr Vater ist als junger Mann von Palermo eingewandert. Nun kommt das Unerwartete: 13 Prozent aschkenasisches, sprich europäisches Judentum. Die Frau rechnet und schlussfolgert: Jemand von ihren Urgrosseltern ist jüdisch. Davon hat sie nichts gewusst, und sie überlegt: Ihre Urgrossmutter – sie stellt sich lieber eine Frau vor – hat die Zeit des Faschismus vielleicht in Italien miterlebt. Was für ein Schicksal hatte sie wohl?

«Die antiken Völker haben wir als Anknüpfungspunkt gewählt, da diese sich im Gegensatz zu modernen Völkern gut unterscheiden lassen.»
Roman Scholz, Genealoge

Bei dieser Geschichte gilt es jedoch zunächst anderes zu klären: Wie ermitteln die Firmen solche Ethnizitäten? Und was bedeutet dabei überhaupt jüdisch? Schüren solche Analysen nicht rassistisches Gedankengut? Ausserdem stellt sich die Frage: Wie kommt die Frau der Geschichte ihrer angenommenen Urgrossmutter auf die Spur?

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Marianne Sommer, Professorin für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern, hat sich mit den Diensten von Firmen wie Familytreedna, Igenea oder Ancestry auseinandergesetzt. Sie erläutert die Angebote in einer Publikation über Identität und Geschichte der Gensequenz so: «Die DNA-Tests sollen Auskunft geben über die sogenannte Haplogruppe (Steinzeit), das Urvolk (Antike, 900 v. bis 900 n. Chr.) und das Ursprungsland (11. bis 13. Jahrhundert). Der Haplogruppentest ist bei den meisten Anbietern im Sortiment. Ausgehend von den molekularen Ureltern werden Haplogruppen als die Äste des menschlichen Stammbaums beschrieben.»

DNA aus antiken Gräbern

Die Urvolkbestimmung hingegen bieten nicht alle an. Sie basiert in der Regel auf Studien, in denen man DNA-Proben von heute lebenden Menschen analysiert und diese mit denen von Leuten vergleicht, die über so und so viele Generationen schon in bestimmten Regionen gelebt haben. Inzwischen kann man diese zum Teil mit Studien von DNA aus Gräbern verbinden, die wirklich aus dieser Zeit stammen. Roman Scholz, Genealoge bei Igenea, führt das für sein Unternehmen so aus: «Die antiken Völker haben wir als Anknüpfungspunkt gewählt, da diese sich im Gegensatz zu modernen Völkern gut unterscheiden lassen.»

Zurück nun zur jüdischen Gemeinschaft: Ihre Mitglieder leben bereits seit Jahrtausenden in der Diaspora. Der Schluss liegt nahe, dass sich ihre Genome mehr und mehr mit den Bevölkerungen der neuen Wohnregionen durchmischt haben. Der italienische Genetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza konnte das allerdings schon in den 1970er-Jahren widerlegen, wie Marianne Sommer in einer Arbeit über Populationsgenetik und die grossen Diasporas aufzeigt. Der Genetiker verglich damals die Genome zeitgenössischer Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt mit Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft, die noch immer im Nahen Osten leben. Am Ende konnte er belegen, dass «die Diaspora-Gruppen genetisch noch näher an den Bevölkerungen ihrer geografischen Herkunft als an den Bevölkerungen ihres Gastlandes» sind. Dank seinen Untersuchungen wurde auch klar: Die DNA einer zeitgenössisch in einer bestimmten Region lebenden Population kann als Annäherung an die DNA der Ahnen in derselben Region gebraucht werden.

«Genetik hat bei uns eine unglaubliche Autorität. Gene werden als fundamentale Ebene der Person verstanden.»
Marianne Sommer, Professorin für Kulturwissenschaften

Marianne Sommer weist auf marktspezifische Aspekte bei den modernen DNA-Analysen-Anbietern hin: «Obwohl die Eruierung der Abstammung immer ähnlich funktioniert, schneiden die verschiedenen Firmen ihre Produkte auf ihre Zielgruppen zu.» Wenn ein Anbieter die DNA auf antike ‹Völker› zurückführe, dann «wird man zum Beispiel zur Germanin, und die Herkunftsregion seit dem Mittelalter lautet Deutschland, obwohl es den deutschen Nationalstaat noch nicht gab. Brisant ist auch, dass sich so jemand besonders deutsch fühlen könnte.» Andere Anbieter sind auf Afroamerikaner spezialisiert, und die amerikanische Anthropologin Nadia Abu El-Haj konnte zeigen, dass der Anbieter Familytreedna einen hohen Anteil jüdischstämmiger Kundschaft hat.

Analysen zeigen ethnische Durchmischung

Gleichzeitig habe die Sache auch etwas Spielerisches, das in unsere Zeit passt, sagt Sommer. Jemand, der auf die Phönizier zurückgeführt wird, meint dann, den Grund dafür zu haben, dass er immer so gerne gereist ist. Die Methode der Zuteilung des Genoms zu verschiedenen geografischen Regionen fördere zudem eher das Verständnis für die Durchmischtheit der eigenen Identität. Diese Analyse wird durch Programme wie Structure ermöglicht, die seit der Jahrtausendwende individuelle Genomproben aufgrund von Ähnlichkeiten in Gruppen einteilen. Dafür müssen diese nicht vorab einer ethnischen Gruppe zugeordnet werden. Die Kulturwissenschaftlerin gibt aber zu bedenken: «Bei diesen Angeboten schwingt die Reduktion von Identität auf DNA mit. Sie wird biologisiert. Jüdischsein etwa erschliesst sich nicht aus Gensequenzen: Es geht zwar auch um Abstammung, aber noch um so vieles mehr wie gelebter Glaube und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Aber die Genetik hat bei uns eine unglaubliche Autorität, als Wissenschaft, im Alltag. Gene werden als fundamentale Ebene der Person verstanden.»

«Informationen aus automatisierten Stammbäumen sind mit allergrösster Vorsicht zu geniessen und müssen unbedingt verifiziert und via Primärquellen bestätigt werden.»Jürgen Rauber, Genealoge

Viele Firmen bieten neben der Einteilung in Ethnizitäten die Erstellung automatisierter Familienstammbäume an, eigentlich ein ganz anderer Zweig der Abstammungsforschung. Dieser wird klassischerweise von Berufs- und Freizeitgenealogen abgedeckt, die hierzulande in der Schweizerischen Gesellschaft für Familienforschung (SGFF) organisiert sind. Sie steigen in die Dorf- und Stadtarchive und spüren Vorfahren in den Kirchenbüchern auf. «Wenn man wie bei den Onlinefirmen einen Stammbaum zu Füssen gelegt bekommt, löst das Erwartungen aus, die bei weitem nicht eingehalten werden können», sagt Kurt Münger, Präsident der SGFF. Und Berufsgenealoge Jürgen Rauber warnt: «Diese Informationen sind mit allergrösster Vorsicht zu geniessen und müssen unbedingt verifiziert und via Primärquellen bestätigt werden.» Beide sehen aber auch die Vorzüge der Angebote. «Das Gute ist, dass etwa Myheritage über eine sehr grosse Datenbasis verfügt und man relativ schnell Informationen über Vorfahren findet», sagt Rauber. Und Münger räumt ein, dass dank der neuen Firmen die digitale Erfassung der Kirchenbücher vorangeschritten sei. «Wir schätzen es, dass wir Familienforschung nun auch per Computer betreiben können.»

Die Frau jedenfalls, die das Schicksal ihrer vielleicht jüdischen Urgrossmutter kennenlernen möchte, bräuchte nun die Hilfe von erfahrenen Forschenden wie Rauber. Die automatische Analyse ihres Genoms verrät ihr darüber nämlich so gut wie nichts.

Horizonte Magazin

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