In der Schweiz werden Kinder vernachlässigt, psychisch und körperlich misshandelt und sexuell missbraucht. Das weiss man. Aber wie hoch die Zahl der erfassten Fälle genau ist, ob es kantonale Unterschiede gibt, ob Fälle überall gleich gut erkannt und betreut werden – das wusste man bisher nicht. Denn es gibt keine einheitliche Datenbank für Kindeswohlgefährdung. Und das, obwohl die Uno eine solche Datenbank im Rahmen der Kindesschutzkonvention anmahnt.

Ein Problem sind die vielen involvierten Stellen: Polizei, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB), Spitäler oder Beratungsstellen arbeiten in Einzelfällen durchaus zusammen, aber darüber hinaus tauschen sie sich noch zu wenig aus. Zudem erfassen sie Fälle von Kindeswohlgefährdung nicht nach gleichen Massstäben, etwa, weil Mediziner und Juristinnen unterschiedliche Fachbegriffe nutzen. So erfasst beispielsweise eine Stelle eine Nötigung, ohne zu spezifizieren, ob es sich um körperliche oder psychische Gewalt handelt. Eine andere wiederum nutzt den Begriff gar nicht erst.

«Dropbox» für Daten über Kindsmisshandlung

«Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass wir nicht wissen, wie viele misshandelte und vernachlässigte Kinder es in der Schweiz gibt», findet Projektleiter Andreas Jud vom Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. In einer gemeinsamen Studie mit dem Observatoire Maltraitance envers les Enfants der Universität Lausanne will er zeigen, dass es möglich ist, eine schweizweite Datenbank zu schaffen. Das Projekt wird von der UBS Optimus Foundation finanziert.

Um verlässliche Daten zu bekommen, haben die Forschenden die beteiligten Einrichtungen für die Studie von Anfang an ins Boot geholt. Die Institutionen anonymisierten ihre Daten und luden sie in eine Art Dropbox hoch. An der Hochschule Luzern wurden die technischen Systeme zusammengebracht und die Daten vereinheitlicht. 351 Einrichtungen des Kindesschutzes stellten Informationen über die von ihnen neu erfassten Fälle zwischen September und November 2016 zur Verfügung. Der kurze Zeitraum wurde gewählt, um den Aufwand für die Beteiligten überschaubar zu halten und Rückfragen zu ermöglichen.

Die Spitze des Eisbergs

Die Ergebnisse zeigen, dass es allein in diesen drei Monaten über 10’000 neue Fälle gab. Pro Jahr entspricht das zwischen 30’000 und 50’000 Kindern, die neu oder wieder bei einer Kindesschutzorganisation Hilfe suchen. Vermutlich ist das aber nur die Spitze des Eisbergs.

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Die Auswertung der Datensätze zeigt, dass grosse regionale Unterschiede in der Erfassung der Fälle bestehen: Es hängt vom Wohnort ab, welche Unterstützung ein Kind erhält. Anders lässt sich nicht erklären, dass in Zürich auf 10’000 Kinder 107 Fälle von Kindeswohlgefährdung kommen, während es im Tessin nur 26 sind und die anderen Regionen dazwischenliegen.

Zudem scheinen die Kindesschutzorganisationen die gleichen Formen von Kindeswohlgefährdung nicht gleich häufig für Jungen und Mädchen zu erfassen. So werden körperlich misshandelte Jungen eher erkannt, psychisch misshandelte seltener. Möglicherweise werden Gefährdungen je nach Geschlecht unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt.

Werden Misshandlungen zu spät erkannt?

Noch besorgniserregender: Die Kinder kommen wegen körperlicher Misshandlungen erst spät mit den Schutzorganisationen in Kontakt, sie sind im Schnitt älter als zehn Jahre; dies obwohl auch schon deutlich jüngere Kinder physische und psychische Gewalt erleben. Das Resultat deutet darauf hin, dass körperliche Misshandlung in einigen Versorgungsbereichen erst sehr spät erkannt oder als solche bewertet wird.

Was muss jetzt passieren? «Wir müssen mehr über die Funktionsweise des Kindesschutzes in der Schweiz wissen, um die Schwächen gezielt angehen zu können», sagt Andreas Jud. Es brauche mehr Wissen, mehr Austausch zwischen den Akteuren und vor allem den Willen, den Kindesschutz zu stärken. Dafür ist eine verbesserte, standardisierte Datenerhebung im Sinne eines Monitorings nötig. Jud: «Unsere Studie hat gezeigt, dass das möglich ist.»

Die Optimus-Studie


Die Optimus-Studie begann vor zehn Jahren und wird durch die UBS Optimus Foundation finanziert. Das wissenschaftliche Grossprojekt hat zum Ziel, repräsentative Daten über Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu erheben, um so Lücken in Kindesschutzsystemen zu erkennen und wirkungsvollere Präventions- und Interventionsstrategien zu erarbeiten. Neben der Schweiz wurden auch in China und Südafrika Daten erhoben. Die Ergebnisse finden sich auf: www.optimusstudy.org

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Kontakt zum Forscher: Prof. Dr. Andreas Jud, Dozent und Projektleiter. T +41 41 367 49 32 / andreas.jud@hslu.ch@hslu.ch.

Hochschule Luzern HSLU

Hier präsentiert die Hochschule Luzern HSLU Geschichten aus der Forschung.
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