Der Legende nach soll Alex Müller schon bei der Einreichung des Manuskripts an die »Zeitschrift für Physik« geahnt haben, dass die Arbeit Wellen werfen wird. Er und sein Kollege Georg Bednorz hatten etwas gezeigt, das bis dahin als unmöglich gegolten hatte: Oxidische Materialien leiten unter gewissen Bedingungen Strom ohne Widerstand – und dies bei einer sehr viel höheren Temperatur als die damals bekannten metallischen Supraleiter. «Das war revolutionär», erinnert sich Alex Müller. «Denn bis dahin galten Oxide als isolierend oder bestenfalls als Halbleiter.» Damit stiessen die beiden Materialforscher eine Tür auf, nach der vor ihnen Forscher jahrzehntelang gesucht hatten. Denn wenn man Strom zum Beispiel über Kabel leiten könnte, in denen kein Verlust auftritt, würde das viele Probleme der Energieversorgung lösen. Immerhin gehen zum Beispiel im Schweizer Netz heute noch knapp fünf Prozent des elektrischen Stroms einfach so bei der Übertragung verloren. Je länger die Kabel und je älter die Technologie, desto höher kann der Verlust sein. Neben der Energieübertragung versprachen sich die Ingenieure noch viele weitere Anwendungen. Doch diese blieben über Jahrzehnte blosse Träumerei. Entdeckt hatte das Phänomen der Supraleitung bereits vor 100 Jahren der holländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes. Er tauchte Quecksilber in flüssiges Helium, das eine Temperatur von minus 269 Grad Celsius aufwies. Schlagartig verlor das Metall seinen elektrischen Widerstand und leitete den Strom ohne Verlust.

Wettlauf um neue Materialien

Bald wurde klar, dass sich die Supraleitung auch in anderen Metallen erreichen liess, wenn man sie mit bestimmten chemischen Elementen versetzt. Doch alle Mischungen hatten einen entscheidenden Nachteil: Die Supraleitung trat nur bei extrem tiefen Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt auf. Sollten daraus tatsächlich nützliche Anwendungen werden, musste man Materialien finden, die bei wesentlich höheren Temperaturen supraleitend sind. Bednorz und Müller suchten bei den Oxiden. «Wir hatten Hinweise, dass dies möglich ist», erinnert sich Georg Bednorz. Doch diese Idee war derart absurd, dass sich die beiden für ein besonderes Vorgehen entschieden. «Wir haben quasi verdeckt ermittelt – ohne dass das Management darüber Bescheid wusste.»

Der Durchbruch kam 1986: La1,85Ba0,15CuO4 lautete die magische Formel des ersten Hochtemperatur-Supraleiters. Ein keramisches Kupferoxid, dessen sogenannte Sprungtemperatur bei 35 Kelvin liegt. Das war zwar immer noch sehr kalt, nämlich minus 238 Grad Celsius, aber sensationelle 50 Prozent oder 12 Grad höher als der bisherige Rekord von 23 Kelvin. Und Teil zwei der Sensation: Eine neue Klasse von Supraleitern war entdeckt und öffnete das Tor zu einer stürmischen Entwicklung. Ein weltweites Rennen um noch höhere Temperaturen begann. Lanthan wurde ersetzt durch Yttrium. Es folgten Bismut, Strontium, Kalzium und viele weitere Elemente. Eine nächste magische Grenze war 77 Kelvin: Ab hier ist die Kühlung mit flüssigem Stickstoff möglich. Dieser ist so billig herzustellen, dass ungeahnte Anwendungen in greifbare Nähe rückten. Der heute gültige Rekord liegt bei minus 138 Grad Celsius. Aufgestellt von den beiden Professoren Andreas Schilling und Hans Rudolf Ott im Jahr 1993 an der ETH Zürich. Seither ist es um die Supraleitung ruhiger geworden. Kritiker sprechen sogar von einem Hype, von zu hohen Versprechungen und sie reklamieren, dass die Anwendungen zu lange auf sich warten lassen.

Super Anwendungen in Sicht

Im Einsatz: Windturbinen.iStock

Im Einsatz: Windturbinen.

Hochtemperatur-Supraleitern steht eine grosse Zukunft im Energie-Sektor bevor. Verschiedene Projekte und Prototypen sind bereits realisiert: Das erste kommerziell genutzte Supraleiter-Kabel ist seit 2008 in Long Island (USA) installiert. Es transportiert drei Mal mehr Strom als herkömmliche Kupferkabel. Das ist besonders in Städten wichtig, weil dort der Platz in den Kabelschächten sehr begrenzt ist. Zudem ist es verlustfrei. Zum Vergleich: Im Schweizer Netz gehen bis zu fünf Prozent des Stroms schon bei der Übertragung verloren. In Japan ist seit 2005 eine Magnetschwebebahn im Test. Sie erreicht ein Tempo von über 580 Kilometern in der Stunde. In der Bahn und auf der Schiene sind supraleitende Magnete verbaut. Die Windturbine «SeaTitan» wird mit 10 Megawatt eine doppelt so hohe Leistung haben wie die grössten heute existierenden Turbinen. Der Generator aus supraleitendem Material ist mit flüssigem Stickstoff gekühlt. Der Kühlaufwand zahlt sich aber energetisch aus: Ein einziger SeaTitan wird Strom für bis zu 5000 Haushalte liefern. Zu seiner Kühlung reicht die Leistung eines gewöhnlichen Haushaltkühlschranks. Die Entwickler-Firma American Superconductor hat zusammen mit Partnern das Windkraftwerk 2016 auf den Markt gebracht.

Medizin, Geologie, Gentechnik

Jedoch haben die Supraleiter den Weg in die Praxis gefunden. Im Tieftemperaturbereich kommen sie schon seit einigen Jahren in den Spitälern in Magnetresonanztomografen zum Einsatz. Sie liefern Bilder vom Inneren eines Patienten ohne schädliche Röntgenstrahlen. Dazu werden mittels riesiger supraleitender Magnete die leicht magnetischen Wassermoleküle im Gewebe einheitlich ausgerichtet. Darauf versetzen Radiowellen die Moleküle in Schwingung – die Moleküle senden dadurch Signale aus, die von supraleitenden Antennen registriert werden. Schliesslich setzt ein Computer diese Signale in dreidimensionale Bilder um. Die Antennen heissen in der Fachsprache SQUID (Superconducting QUantum Interference Device), und sie werden überall dort gebraucht, wo es gilt, sehr schwache Magnetfelder zu messen: In der Geologie und der Archäologie spüren sie Erzvorkommen oder Strukturen von Gebäudeüberresten auf.

«Die praktische Anwendung der Hochtemperatur-Supraleiter hat jetzt begonnen», sagt Jason Fredette, Sprecher von American Superconductor. Die Firma hat vor drei Jahren in Long Island bei New York ein unterirdisches Stromkabel installiert, das drei Mal mehr Strom transportiert als herkömmliche Kupferkabel. Es misst zwar nur 600 Meter, doch es handelt sich um die erste kommerziell betriebene supraleitende Stromleitung. «Deren Bedeutung wird in Zukunft zunehmen», sagt Fredette. Nicht nur weil das Kabel weniger Verlust aufweist, sondern auch «weil in den Kabelschächten der Städte der Platz sehr beschränkt ist.» Das Geheimnis des Super-Kabels liegt in seinem Kern: einer Leitung, die mit flüssigem Stickstoff das Kabel kühlt. Und das supraleitende Material ist als feines Geflecht in verschiedene andere Schichten eingebaut, sodass dieses trotz keramischer Eigenschaften flexibel ist.

American Superconductor ist führend auf dem Gebiet der Supraleitung. Ihre jüngste Entwicklung heisst SeaTitan. Eine gewaltige Windturbine mit 10 Megawatt Leistung. Das ist im Vergleich zu den grössten heute installierten Turbinen gut das Doppelte. Bis ins Jahr 2015 wurden zusammen mit verschiedenen Lizenzfirmen die ersten Prototypen gebaut und ab 2016 kommerzialisiert. Auf einem ähnlichen Generator basiert ein Schiffsmotor, der wesentlich weniger Treibstoff verbraucht und nur noch halb so schwer ist wie Schiffsmotoren gleicher Leistung. Diese enorme Gewichtsreduktion ist darum möglich, weil der supraleitende Draht in den Wicklungen rund 150 Mal mehr Strom leiten kann. Und in Japan ist seit 2005 der Prototyp einer Magnetschwebebahn im Test, die eine Geschwindigkeit von über 580 Kilometern in der Stunde erreicht. Auch hier sind die supraleitenden Magnete verbaut, die mit flüssigem Stickstoff gekühlt werden.

Stellt sich die Frage, ob sich dieser enorme Kühlaufwand energetisch überhaupt lohnt. Jason Fredette von American Superconductors hat einen einfachen Vergleich zur Hand. «Ein einziger SeaTitan versorgt bis zu 5000 Haushalte mit Strom. Der flüssige Stickstoff ist in derart gut isolierten Behältnissen eingeschlossen, dass zur Kühlung die Leistung eines herkömmlichen Haushaltkühlschranks reicht.»

Wer mehr über die Zürcher Supraleitungspioniere Alex Müller und Georg Bednorz erfahren will: hier unser Interview mit den beiden Nobelpreisträgern.

Die Erstversion dieses Beitrags erschien am 15. April 2011.
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