Seit 13 Jahren ist Theo Brogle jeden Tag und bei jedem Wetter nahe Winterthur im Wald unterwegs. Der 73-jährige ehemalige Mechaniker rüttelt am Stamm einer Birke. Als ein Schleier gelber Pollenkörner durch die Luft wirbelt, notiert er die Beobachtung. Brogle sammelt Daten für die Wissenschaft: Für etwa zwei Dutzend verschiedene Wild- und Kulturpflanzen hält er unter anderem fest, wann sie blühen, reife Früchte haben oder die Blätter abwerfen. Die Daten übermittelt er an die Internetplattform «PhaenoNet».

Björn Strey

Wie Brogle speisen hier rund 300 freiwillige Naturbeobachter und etwa 50 Schulklassen ihre Beobachtungen ein. Und es gibt immer mehr solche Netzwerke: zum Beispiel für Moose, Pilze, Amphibien, Fische, Vögel und vieles mehr. Die von Amateuren zusammengetragenen Informationen sind keine Spielerei, sondern haben einen handfesten Nutzen. Sie helfen zum Beispiel Meteo Schweiz, Aussagen über den Klimawandel zu machen, oder dem Bundesamt für Umwelt, die Liste der gefährdeten Arten nachzuführen.

Eine alte Tradition

Die Mitarbeit von Laien in der Wissenschaft – international als Citizen Science bezeichnet – habe eine lange Tradition, sagt Wissenschaftshistoriker Bruno Strasser von der Uni Genf. «Als Forschung noch vor allem aus Naturbeobachtung und Probensammeln bestand, war es die gängige Methode.» Im 18. und 19. Jahrhundert sammelten Frauenzirkel systematisch Schmetterlinge oder Pflanzen; abenteuerlustige Männer trugen aus den Bergen Gesteinsproben zusammen. Doch je mehr ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Experimentieren im Labor dominierte, desto mehr Fachwissen war gefragt. Experten übernahmen das Zepter, während Laien zusehends aus der Forschung verschwanden.

Didier Descouens

Der Wiederaufschwung der Bürgerwissenschaft begann mit der Diskussion um die Umweltverschmutzung. «Die Bürger hatten das Vertrauen in Institutionen und Wissenschaft verloren», sagt Wissenschaftshistoriker Strasser und nennt als Schlüsselmoment den Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahr 1986: Selbst als weite Teile Europas radioaktiv verseucht waren, behauptete die französische Strahlenschutzbehörde, ihr Land sei nicht betroffen. So begannen die Leute selbst, mit einfachen Geräten die Radioaktivität zu messen – und bewiesen das Gegenteil.

Vor allem im Umweltbereich entwickelte sich Citizen Science wieder zu einer starken Bewegung. Als 2010 die Ölplattform Deep Water Horizon im Golf von Mexiko leck lief, zeigten erst die Messungen von Tausenden von Laien entlang den Küsten das wahre Ausmass der Katastrophe. Heute sind für Umweltbeobachtungen Netze von Laien überall auf der Welt wichtig und anerkannt.

Neue Medien, neue Projekte

Einen wahren Boom aber erlebte die Citizen Science mit dem Aufkommen des Internets. So haben zum Beispiel 60 000 Personen eine App der Universität Zürich heruntergeladen, um ihren Dialekt zu identifizieren. Damit gewinnt das phonetische Labor der Uni Erkenntnisse über den Wandel der Schweizer Dialekte.

«Mithilfe der Laien bewältigen wir Datenberge, die wir alleine nie schaffen würden»Kevin Schawinski

Den absoluten Rekord aber bricht der «Galaxy Zoo», den der Astrophysiker Kevin Schawinski von der ETH Zürich 2007 mitbegründet hat. Auf der Website ordneten Astronomie-Fans etwa eine Million Bilder von Galaxien nach bestimmten Typen. Daraus hat sich das «Zooniverse» entwickelt, eine Citizen-Science-Plattform, auf der heute mehr als 1,5 Millionen Laien in über 50 Projekten aktiv sind. Wobei für jeden Geschmack etwas dabei ist: von Naturbeobachtungen über die Kometenjagd bis zum Entziffern handschriftlicher Manuskripte aus Shakespeares Zeit.

Neugier und Abenteuerlust

Doch was treibt Menschen an, stundenlang Bilder am Computer zu sortieren oder bei Wind und Wetter im Wald herumzulaufen? «Es freut mich, wenn ich etwas zur Wissenschaft beitragen kann», sagt Theo Brogle. Die Motive der Freiwilligen hat Kevin Schawinski in einer Studie ermittelt: «Es ist der Wille, etwas Nützliches zu tun.» Mitschwingen mögen auch Spieltrieb und Abenteuerlust. Vielleicht sogar die Hoffnung, sich eines Tages am Himmel verewigt zu finden, wie die holländische Lehrerin Hanny van Arkel. Sie entdeckte unter der Million Galaxien im Galaxy Zoo ein bis dahin unbekanntes Objekt, das heute offiziell Hanny’s Voorwerp heisst.

Wikimedia

Sogar wer selbst nicht aktiv sein will, kann ein Citizen Scientist sein: zum Beispiel mit dem Bildschirmschoner «Einstein@home». Er gibt dem amerikanischen Gravitationswellen-Observatorium Ligo Zugriff auf den Computer. Dieses nutzt dann den Rechner – wenn der Besitzer ihn nicht braucht – für wissenschaftliche Berechnungen. Auf ähnliche Weise nutzt das Kernforschungszentrum Cern in Genf private Rechnerleistung.

Doch die Datenmengen werden immer grösser. «Eine Milliarde Galaxien können wir auch mit Laien nicht mehr analysieren.» Als Lösung strebt der Astrophysiker die Verschmelzung von Citizen Science und künstlicher Intelligenz an. Lernende Maschinen sollen die Routinearbeit erledigen und nur das Aussergewöhnliche zur Interpretation an geschulte Amateure oder Experten übergeben.

Auf eine ganz andere Art erweitert der Alterspsychologe Mike Martin von der Universität Zürich die Bürgerwissenschaft. Er spannt die Laien – in seinem Fall ältere Menschen – nicht nur als Gratismitarbeiter oder beforschte Objekte ein, sondern definiert mit ihnen zusammen in Workshops auch die Fragestellungen. So findet er die tatsächlichen Bedürfnisse der einbezogenen Senioren heraus und kann später die Forschungsresultate direkt an die Betroffenen zurückgeben.

Noch fehlen klare Regeln

«Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich an der Forschung zu beteiligen, freut uns natürlich», sagt Daniel Wyler, Physikprofessor und ehemaliger Prorektor der Universität Zürich. Doch der Boom birgt auch Gefahren: Wie sichert man die Qualität? Zwar gibt zum Beispiel PhaenoNet eine Warnung, wenn Freiwillige wie Theo Brogle eine ungewöhnliche Beobachtung eintragen – um sicher zu gehen, dass diese kein Fehler ist. Auch korrigieren sich Hunderttausende von Galaxienbeobachtern gegenseitig. Aber es ist nirgends definiert, was gute Bürgerwissenschaft ist.

Und der Boom wirft Fragen auf: Wem gehören die Daten der Laien, die Resultate, allenfalls Patente? Wie sichert man die ethische Korrektheit der Projekte? Solche Fragen klärt Wyler in einer Arbeitsgruppe mit Vertretern der Universitäten Genf und Zürich sowie der ETH. In Zürich wurde ein Citizen Science Center eröffnet und Richtlinien publiziert. Wylers Ziel ist ehrgeizig: «Zürich will Standards setzen, die weltweit richtungsweisend sind.»

Die Erstversion dieses Beitrags erschien am 6. Mai 2016.
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