Um das Denken und Wirken von Heini Hediger an Ort und Stelle kennenzulernen, sind wir mit dem heutigen Direktor des Zürcher Zoos verabredet. Alex Rübel empfängt uns bei der sogenannten Freiflughalle. Sie war die erste ihrer Art in Europa – und ein Werk Heini Hedigers. Im Inneren Dämmerlicht und ein Gewirr von Vogelstimmen. Nachdem sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, erkennt man einen nachgebildeten Tropenwald und unzählige Vögel, die herumhüpfen, mit ihren Schnäbeln im Boden wühlen oder frei herumfliegen. Es gibt weder Gitter noch Glasscheiben – trotzdem kommt kein Vogel aus dem Wald geflattert. «Sie haben keinen Grund dazu», erklärt Rübel. «Weil sie in dem offenen Gehege alle ihre Bedürfnisse befriedigen können.» Damit nennt der Zoodirektor den wichtigsten Grundsatz von Heini Hediger, dem Pionier der modernen Tiergartenbiologie. Ein Tier ist kein Ausstellungsstück, sondern ein Lebewesen mit vielfältigen Bedürfnissen, die weit über das Gefüttertwerden hinausgehen. In der Freiflughalle können sich die Vögel in geschützte Bereiche zurückziehen und ihre sozialen Beziehungen leben – das reicht von der Fortpflanzung bis zu Revierkämpfen. Wie in der freien Natur. Warum aber fliegen sie nicht einfach so mal aus dem «Wald» in den Zuschauerraum hinein? «Weil wir im Dunkeln stehen, der Wald aber beleuchtet ist. So hat ein tagaktiver Vogel keinen Grund in das unbekannte Dunkel zu fliegen», erklärt Rübel.

Die Welt aus der Sicht des Tieres zu sehen: das war auch die Leitlinie, nach welcher Heini Hediger 1965 das Afrikahaus bauen liess, ohne rechte Winkel oder flache Böden, ohne herkömmliche Türen und Treppen und ohne Gitter. Er quartierte hier nicht nur die Spitzmaulnashörner ein, sondern auch eine Schar Vögel. Diese Kuhreiher und Madenhacker turnen auf den Nashörnern herum wie in ihrer Heimat und picken den Dickhäutern Parasiten aus der Haut. Heini Hediger war der Erste, der Tiere zusammen in einem Gehege unterbrachte, die auch in der Wildnis in Symbiose leben. Viele Leute glauben heute, die Vorbilder für tiergerechte Haltung seien berühmte Beispiele wie der Zoo von San Diego. Doch die Idee stammt von Heini Hediger.

Heini Hediger war vorsichtig. Wann immer er im Zoo ein Tier in die Hand nahm, trug er Handschuhe (1965).Zoo Zürich

Heini Hediger war vorsichtig. Wann immer er im Zoo ein Tier in die Hand nahm, trug er Handschuhe (1965).

Am Eingang zur nächsten Anlage deutet Alex Rübel auf die kleine Informationstafel. Was heute für Zoobesucher eine Selbstverständlichkeit ist, hat Hediger erfunden und hat sich weltweit zum Standard für gute Zoos entwickelt. Die so genannte Hediger-Tafel enthält neben dem lokalen auch den wissenschaftlichen Namen des gezeigten Tieres und knappe Informationen über dessen Verbreitung, Lebensweise und Lebensraum. «Vor Hediger führten Zoos die Tiere zur Belustigung vor», erklärt Rübel. «Ohne Anspruch auf Bildung oder Wissenschaftlichkeit.»

Das Interesse des 1908 in Basel geborenen Hediger galt dem Tier als eigenständiges Wesen. Aufgewachsen in der Nähe des Basler Zollis hielt er als Junge unzählige Reptilien, Skorpione und Fische – einige Monate auch einen Fuchs, bis der Vater das Tier infolge nachlassender Schulnoten des Sohnes aus dem Haus verbannte. Heini aber hat schon damals erklärt, er wolle Zoodirektor werden, um seine Ideen umzusetzen. Er, der mehrmals wöchentlich in den Zolli ging, war überzeugt, dass Zoologische Gärten keine Tier-Menagerien sein sollten, sondern kulturelle Institutionen.

«Ein Tier ist kein Ausstellungsstück, sondern ein Lebewesen mit vielfältigen Bedürfnissen.»
Heini Hediger

Doch wie alle Zoologen zu jener Zeit unternahm auch Student Hediger zunächst Expeditionen in alle Herren Länder, wo er Tiere fing und als tote Exponate für das Naturhistorische Museum heimbrachte. Doch 1937 – in Marokko, wo er eine Methode entwickeln wollte, Schlangen schonend zu töten – kam die Einsicht: «Das war das letzte Mal», schreibt er in seiner Biografie. Fortan versucht er konsequent, die Welt durch die Augen des Tieres zu sehen. Noch während des Studiums unternahm er ausgedehnte Forschungsreisen, unter anderem in die Südsee und publizierte Artikel über die Fluchtreaktionen von Reptilien. Im Alter von erst 24 Jahren erlangte er den Doktortitel, kurz darauf wählte ihn das Naturhistorische Museum Basel zum Kustos der Zoologischen Abteilung. Mit 30 Jahren hatte er sein Ziel erreicht: Er wurde Verwalter des Tierparks Dählhölzli in Bern. Fünf Jahre später Direktor des Basler Zollis. Von dort trieb ihn 1954 ein heftiger Streit mit den beiden mächtigen Basler Zoologen Rudolf Geigy und Adolf Portmann an den Zoo Zürich, wo er bis zum Jahr 1973 als Direktor wirkte.

Hediger optimierte nicht nur die Haltung von Tieren, er erforschte auch deren Psychologie sowie das Schlafverhalten, und er publizierte unermüdlich. Sein 1942 erschienenes Buch Wildtiere in Gefangenschaft gilt als das Grundlagenwerk der Tiergartenbiologie. Zusammen mit Konrad Lorenz und Bernhard Grzimek gründete er 1960 die Zeitschrift Das Tier. Er machte Radio, später auch Fernsehen und hielt sage und schreibe 84 Semester lang an der Universität Basel Vorlesungen, die weit über den Kreis der Biologen hinaus extrem beliebt waren. «Hediger betrieb klare und wissenschaftlich korrekte Berichterstattung von grossem Unterhaltungswert», schreibt René Honegger, ehemaliger Kurator des Zürcher Zoos, in seinem Nachruf. Und er bezeichnet seinen langjährigen Chef «als einen der Erfinder des modernen Infotainments.»

Das bedeutet für einen Zoo, dass man keine Anlagen baut, welche zwar die Bedürfnisse der Tiere berücksichtigen, nicht aber jene der Besucher. Diesem Credo stimmt auch der heutige Direktor Rübel zu, während wir die von ihm 2012 eröffnete Anlage des Pantanal betreten. Hier ziehen sich gewundene Flussläufe durch eine dem Amazonas-Gebiet nachempfundene, aber im Schweizer Klima überlebensfähige Vegetation. Auf kleinen Inseln tollen Totenkopf- und Kapuzineräffchen herum. Am Ufer steht eine Holzhütte, in der ein Häftling hinter Gittern döst (er stellt sich bei näherer Betrachtung als Puppe heraus). Davor ein brasilianisches Polizeiauto. «Die Besucher lieben diese Kulisse», weiss Rübel. «Doch sie dient nicht einfach der Unterhaltung. Sie ist ein erzieherisches Element, das den Zuschauern das Problem der Wilderei und des Abholzens von Regenwald bewusst macht.» Damit und mit konkreten Projekten vor Ort, so Rübel, übernehme der Zoo eine Verantwortung für den Natur- und Artenschutz. Etwas, das Hediger forderte.

«Kulissen sind ein erzieherisches Element, das den Zuschauern das Problem der Wilderei und des Abholzens von Regenwald bewusst macht.»Alex Rübel, Direktor Zoo Zürich

Naturnah gestaltete Gehege haben einen Nachteil: man sieht weniger Tiere. «Das stört die Besucher nicht», sagt Rübel. So beklagen sich in einer Umfrage des Zürcher Zoos nur zehn Prozent der Befragten darüber, dass man weniger sehe. «Naturnahe Gestaltung gibt den Besuchern ein besseres Gefühl, als wenn sie Tiere durch Gitterstäbe ansehen müssen.»

Aber bräuchten viele Tiere nicht noch mehr Auslauf? Schliesslich marschiert ein Bär in Freiheit täglich viele Kilometer weit. «Er tut dies nicht, weil er gerne wandert», sagt Rübel, «sondern weil er das Futter so verstreut findet». Wenn ein Tier seine Bedürfnisse in der ihm eigenen Art auf einem kleineren Gebiet befriedigen könne, sei es ihm auch im Zoo wohl.

Beim Betreten der Masoala-Halle mit ihren dreissig Meter hohen Bäumen, dem dichten Buschwerk, den Affen, Flughunden, Vögeln, Chamäleons, Schildkröten und Insekten sagt Rübel: «So hat es sich Hediger wohl vorgestellt: ein Biotop unter einer grossen Käseglocke.» Die Idee von überdachten Ökosystemen entwickelte Hediger schon in den 1950er-Jahren. So wollte er ursprünglich auch im Afrikahaus den Badeteich der Nashörner mit einer Glasscheibe von Unterwasser einsehbar machen. Man hätte Fische gesehen, Labeo-Barben, die symbiotisch mit den Nashörnern leben. Doch damals fehlte für so einen Bau das Geld. «Hediger hat viel über Geldmangel gejammert», erzählt Rübel. «Er war ein wegweisender Zoologe, aber kein guter Manager.»

Ein weiterer Zwiespalt begleitete den Pionier Hediger durch das Leben: die Unvereinbarkeit seines katholischen Glaubens mit der wissenschaftlich bewiesenen Evolution. Obschon er Letztere als Fakt anerkannte, konnte er nie akzeptieren, dass so etwas Wunderbares wie das Pfauenrad aus einer Abfolge von Versuchen und Irrtümern hätte hervorgehen können. «Mit einem Rest an Unerklärbarem müssen wir alle leben», sagt Rübel, der Heini Hediger auch in seiner letzten Lebensphase im Altersheim erlebt hat. «Er hat dort gelitten», erinnert er sich. Hediger war ein Macher, ein Getriebener.

Als Direktor des Zoos Zürich folgte auf Hediger für 18 Jahre Ernst Weilenmann. Seit 1991 leitet Alex Rübel die Geschicke des grössten Schweizer Zoos. Er weiss, dass seine Vorgänger grosse Fussstapfen hinterlassen haben. Doch er füllt sie aus. Nicht nur führt er Hedigers Philosophie weiter, sondern er hat auch den Zoo wirtschaftlich rentabel gemacht, etwas das Hediger für unmöglich hielt. So wurde Alex Rübel im Jahr 2012 «in Anerkennung seines ausserordentlichen Einsatzes in der Wissenschaft und der Bildung für den Natur-, den Tier- und den Umweltschutz» mit dem Heini-Hediger-Award ausgezeichnet – die höchste Auszeichnung in der Zoowelt.

Die Dickhäuter lassen sich unter Wasser durch ein grosses Schaufenster beobachten.Jean-Luc Grossmann/Zoo Zürich

Elefanten baden gern. Der Swimmingpool ist Bestandteil des im Juni 2014 eröffneten, artgerechten Geheges im Zürcher Zoo. Die Dickhäuter lassen sich unter Wasser durch ein grosses Schaufenster beobachten.

Unser Rundgang endet bei der neuen Elefantenanlage. Sie umfasst eine Fläche von gut zwei Fussballfeldern, eine künstliche Felswand mit Wasserfall und einen See. Seit Sommer 2014 lebt hier eine Elefantenherde mit zwei Bullen. «Eine soziale Gruppe wie in der freien Wildbahn», sagt Rübel, bevor sein Blick zur grossen Wiese unterhalb des Zoogeländes wandert. Dort würde er gerne eine afrikanische Steppe einrichten. «Wenn wir etwas machen, dann richtig», sagt Rübel. Genau wie Heini Hediger es vorgelebt hat.

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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