Das musst du wissen

  • 1215 Drohungen gegen Bundesrat und Bundesbehörden zählte das Bundesamt für Polizei 2021 – 2019 waren es noch 246.
  • Verschiedene Strategien sollen helfen, die Menschen hinter den Bedrohungen zur Vernunft zu bringen.
  • Die Soziologin Katja Rost erklärt, warum die Hemmschwelle für Hassnachrichten seit der Pandemie so sehr gesunken ist.
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Die Pandemie hat für viel Leid und Frust gesorgt – sowohl bei den direkt von Covid-19 Betroffenen als auch bei jenen, die indirekt die sozialen Folgen des Lockdowns und der Schutzmassnahmen spürten. Sündenböcke sind schnell gefunden, nämlich jene, die Verantwortung tragen. Die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli (SVP) – Gesundheitsdirektorin und damit verantwortlich für die Impfkampagne im Kanton – musste das auf beschämende Weise im vergangenen August 2021 erfahren. Bei einer Veranstaltung wurde sie vermutlich von impfkritischen Demonstrierenden mit Apfelschorle begossen. Dieses Beispiel ist nur eines von vielen, das verdeutlicht, wie Verantwortung tragende Personen Hass, Häme, Drohungen bis zu Gewaltakten ausgesetzt waren.

Wie sehr, zeigt die Statistik des Bundesamts für Polizei Fedpol, das für den Schutz des Bundesrats und der Angestellten des Bundes zuständig ist: 2019 zählte Fedpol 246 Bedrohungen – also online verfasste Kommentare, Briefe und Telefonanrufe. Im ersten Pandemiejahr stieg die Zahl der Bedrohungen auf 885, 2021 sogar auf 1215 – das ist fünf Mal mehr als 2019. Doch nicht nur die Zahl der Drohungen hat sich erhöht, so Fedpol-Mediensprecher Christoph Gnägi: «Auch der Ton hat sich deutlich verschärft. Es handelt sich nun häufiger auch um explizite und detaillierte Morddrohungen.» Einige schreiben zum Beispiel in Kommentaren auf Telegram und in anderen sozialen Netzwerken, dass ein Mitglied des Bundesrats aufgehängt oder erschossen werden sollte.

Telegram ersetzt den Stammtisch

Einem Bundesrat aus dem Bauch heraus mal mit dem Tod drohen – die Hemmschwelle dafür ist in der Pandemie gesunken. «Die sozialen Medien tragen zu diesem Enthemmungseffekt erheblich bei, weil man sein Gegenüber, dessen Reaktion, Mimik und Gestik nicht sieht», sagt die Soziologin Katja Rost, die sich mitunter mit Hass im Netz beschäftigt und dazu auch eine grossangelegte Studie mitverfasst hat. «Was früher am Stammtisch gesagt wurde, wird heute ins Internet geschrieben», so die Soziologin. «Das Problem ist, dass sich in den sozialen Medien alle Stammtische der Welt miteinander vernetzen können. Dadurch entsteht eine Filterblase, in der solche Kommentare dann nur selten bestraft werden, sondern im Gegenteil noch Applaus erhalten.»

In der Welt ausserhalb der Filterblase in den sozialen Medien können Hasskommentare und Drohungen dann aber dennoch rechtliche Konsequenzen haben. Explizite Morddrohungen sind klar strafbar – in anderen Fällen ist die Bewertung schwieriger: Zwar ist ein Satz wie «Person XY muss aufpassen» klar als Drohung zu verstehen, befindet sich aber strafrechtlich schon im Graubereich. Fedpol sucht in erster Linie aber Kontakt zu den Verfassenden der Kommentare. Zunächst werden diese durch die Polizeibeamten mit einem sogenannten Grenzziehungsschreiben ermahnt. Dieser postalische Hinweis, solche Kommentare in Zukunft zu unterlassen, wirkt allerdings nicht bei allen: Ein Corona-Skeptiker postete ein Foto seines Briefs von Fedpol in einer Telegramgruppe. «Alain du läbsch gföhrlich» und «irgendwann sehen wir uns Marionette Berset», soll er geschrieben haben. Fedpol schreibt in dem Brief, dass weitere solcher Kommentare in Zukunft zu einer Strafanzeige führen können.

Hilft Empathie gegen Hetze?

Auffallend an dem Schreiben ist, dass Fedpol darin auch Verständnis zum Ausdruck bringt, dass die «Covid-19-Situation belastend ist und nicht alle mit den Entscheiden der Landesregierung einverstanden sind». Empathie zu zeigen und an das Mitgefühl von Menschen zu appellieren, könnte tatsächlich wirkungsvoll sein, wie eine Studie der ETH und der Universität Zürich zeigt: In einem Experiment antworteten die Forschenden auf Hasskommentare auf Twitter entweder mit Warnungen, mit Humor oder mit einem Appell an Empathie – zum Beispiel, dass die entsprechende Aussage verletzend sein könnte. Accounts, die an ihr Mitgefühl erinnert wurden, posteten danach tendenziell weniger Hasskommentare oder löschten diese sogar – auch wenn der Effekt gering war.

Science-Check ✓

Studie: Empathy-based counterspeech can reduce racist hate speech in a social media field experimentKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Studie konzentriert sich auf fremdenfeindliche und rassistische Äusserungen auf Twitter und lässt sich deshalb nur bedingt auf andere Themengebiete übertragen. So müssten weitere Studien herausfinden, ob zum Beispiel bei Corona-Massnahmen, Verschwörungstheorien oder Impfskepsis eine andere Ansprache besser funktioniert. Zudem kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass die Accounts wirklich wegen der jeweiligen Empathie-auslösenden Antworten danach ihre rassistischen und fremdenfeindlichen Aussagen reduziert haben.Mehr Infos zu dieser Studie...

Entsprechend gehen auch nach den Grenzziehungsschreiben des Fedpol die Bedrohungen und Hass-Postings vieler Personen weiter. Dann reagiert Fedpol mit der sogenannten Gefährderansprache: Die Polizeibeamten besuchen die Verfassenden zuhause und ermahnen diese noch einmal ausdrücklich, solche Kommentare in Zukunft nicht mehr zu schreiben. Wenn diese mündlich ausgesprochene Warnung keine Früchte trägt oder die Drohung im strafbaren Bereich liegt, wird Strafanzeige erstattet. In den meisten Fällen machen die Behörden mit der Gefährderansprache allerdings gute Erfahrungen, so Gnägi: «Wenn vier Polizeibeamte vor der Tür stehen, macht das Eindruck. Die meisten Personen, die Drohungen verfassen, haben keine reale Absicht, wirklich Gewalt anzuwenden – die Kommentare entstehen manchmal aus einer spontanen Emotion heraus oder im vermeintlichen Schutz der Anonymität.» Und damit ist es dann doch wieder wie am Stammtisch: Am Ende heisst es, man habe es ja gar nicht so ernst gemeint.

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