Als sie am Rande des Waldstücks aus dem Auto steigt, zieht Ildikò Szelecz die Luft durch die Nase. «Im Sommer hat man den Verwesungsgeruch bis hierher gerochen», sagt sie. Dann bahnt sie sich einen Weg zwischen den Ästen der Bäume hindurch, tiefer in den Wald. Nach rund 100 Metern stösst sie auf die Käfige aus Maschendraht. In einem baumelt ein von ledriger Haut umspanntes Skelett an einem Strick, andere liegen auf Drahtgittern.
Was wie der Schauplatz eines Verbrechens anmutet, ist in Wirklichkeit Teil eines wissenschaftlichen Experiments. Die mumifizierten Skelette stammen von insgesamt 13 Schweinekadavern, welche Ildikò Szelecz selbst vor zweieinhalb Jahren an dieser Stelle im Wald ausgelegt oder aufgehängt hat.
Schweine ersetzen menschliche Leichen
Die Freiluftversuchsanlage liegt nahe der Stadt Neuenburg, an deren Universität Szelecz als Bodenbiologin arbeitet. Die Forscherin will eine neue Datierungsmethode entwickeln, die künftig helfen soll, den Todeszeitpunkt eines Menschen zu bestimmen.
Zwar können Forensiker bereits heute am Zustand einer Leiche abschätzen, wie lange das Opfer schon tot ist. Doch schon zwei Monate nach dem Tod ist keine zuverlässige Datierung mehr möglich. Zum Beispiel dann, wenn eine Leiche längere Zeit unentdeckt im Wald lag. «Das ist ein Problem für die Ermittler», sagt Szelecz.
Helfen könnte hier die neue Methode, welche die Forscherin derzeit entwickelt. Denn Hinweise auf den Todeszeitpunkt sind auch nach zwei Monaten noch vorhanden – und zwar versteckt im Boden. Unterhalb der Stelle, an welcher der verwesende Körper liegt oder hängt, verändern sich die chemischen Bedingungen des Bodens stark. Das wiederum hat einen grossen Einfluss auf bestimmte, darin lebende Organismen: von blossem Auge kaum sichtbare Fadenwürmer, wissenschaftlich auch Nematoden genannt. Diese kommen überall im Boden vor. In einer Handvoll Walderde leben rund 1000 Exemplare der höchstens einige Millimeter langen, meist durchsichtigen Tierchen.
Fadenwürmer verraten Todeszeitpunkt
Diese untersucht die Forscherin, um den Todeszeitpunkt zu bestimmen. Dazu sammelt sie regelmässig dort Bodenproben, wo die Schweine im Wald deponiert wurden. Im Labor siebt sie die Nematoden aus den Proben heraus und ordnet sie unter dem Mikroskop verschiedenen Gruppen zu. Anhand der Mundwerkzeuge erkennt sie, wovon sich die Tiere ernähren: Bakterien, Pilzen, Pflanzen oder gar andere Nematoden. In Abhängigkeit vom Nahrungsangebot sind die verschiedenen Gruppen unterschiedlich stark vertreten. «Doch das muss nicht immer so bleiben», sagt Szelecz. Ändern sich die Bedingungen im Boden, verändert sich auch die Zusammensetzung der Fadenwurm-Gemeinschaft.
Und genau das lässt sich für forensische Untersuchungen nutzen. Denn wie die Experimente zeigten, veränderte sich die Bodenumwelt dramatisch, nachdem die Schweine im Wald ausgelegt wurden. Durch die beginnende Verwesung gelangten viele Bakterien, die auf und in den Kadavern leben, in den Boden – ein Festmahl für bakterienfressende Nematoden. Deren Anzahl schnellte zwei Wochen nach dem Auslegen eines Kadavers in die Höhe. Doch schon eine Woche später waren sie und auch alle anderen Nematoden plötzlich verschwunden. Wahrscheinlich waren die Bedingungen im Boden zu ungünstig geworden, vermutet die Forscherin.
Seither nimmt die Zahl der Tierchen nur langsam wieder zu. So hat es auch nach einem Jahr beispielsweise noch nicht wieder so viele pilzfressende Fadenwürmer – normalerweise eine der grössten Gruppen im Waldboden – wie zu Beginn des Experiments.
Wie die Nematoden sich den Boden in Etappen wieder zurückerobern, hat Szelecz genau dokumentiert. Um nun abschätzen zu können, seit wie vielen Monaten eine Leiche schon an einem Ort liegt, kann die Forscherin die Anzahl und die Gruppen der Nematoden unter der Leiche bestimmen und mit ihren Studienresultaten vergleichen.
Doch bis die neue Methode zur Aufklärung von Kriminalfällen eingesetzt werden kann, ist es noch ein weiter Weg. Denn um die Resultate zu bestätigen, müssten die Versuche mit menschlichen Leichen wiederholt werden. Einen entsprechenden Antrag hat Szelecz bereits gestellt – ob er bewilligt wird, ist noch ungewiss. In der Schweiz gab es solche Versuche mit gespendeten Leichen bisher nicht, in den USA sind sie hingegen bereits möglich. Auch Ildikò Szelecz möchte ihren Körper dereinst für ähnliche wissenschaftliche Untersuchungen spenden: «Dann würde ich dort liegen, wo ich mit Freude und Begeisterung gearbeitet habe.»