Der Bundesrat hat noch für diesen Februar in Aussicht gestellt, alle Corona-Massnahmen, von Covid-Zertifikat über Home-Office-Anordnung bis hin zur Maskenpflicht, aufzuheben. Das baldige Ende der Corona-Massnahmen erfreut nicht zuletzt die massnahmenkritische Bewegung, die seit rund zwei Jahren just die totale Aufhebung aller Massnahmen forderte.

Marko Kovic

Marko Kovic beschäftigt sich mit gesellschaftlichem Wandel, schreibt für diverse Medien und doziert an einer Fachhochschule.

Das Ziel der Bewegung ist damit also erreicht. Die logische Folge wäre nun, dass sich die Bewegung auflöst; schliesslich gibt es bald nichts mehr, wogegen protestiert werden kann.
Diese Entwicklung wäre auf einer rein logischen Ebene folgerichtig. Doch verschwörungsideologisch aufgeladene Bewegungen haben sich in der Vergangenheit als beständig und anpassungsfähig erwiesen. Nimmt eine solche Bewegung richtig Fahrt auf, ist sie nicht einfach zu bremsen.

Die Resilienz irrationaler Überzeugungen

Idealerweise würden Menschen ihre Ansichten und Überzeugungen ändern, wenn sie mit zuverlässigen Fakten konfrontiert werden. Doch die menschliche Kognition funktioniert leider nicht immer, oder sogar nur eher selten, ideal rational. Wir alle sind Weltmeister darin, kognitive Dissonanzen, also sich widersprechende Informationen, zu unseren eigenen Gunsten zu tilgen. Im Kleinen zeigt sich dies etwa mit dem Backfire-Effekt. Wenn zum Beispiel Menschen, die Impfungen ablehnen, korrigierende Informationen zur Sicherheit und Wirksamkeit von Impfungen erhalten, ändern sie oft nicht ihre Meinung. Im Gegenteil: Sie verbeissen sich stattdessen noch stärker in das, was sie vorher geglaubt haben.

Diesen Unwillen, von irrationalen Überzeugungen abzulassen, gibt es auch und noch stärker im Grossen.

Wenn unser gesamtes Weltbild in Frage gestellt wird, ist es sehr aufwendig und schmerzhaft, unsere Meinung zu ändern.

Es geht schliesslich nicht um eine kleine Nebensache, bei der wir uns geirrt haben, sondern ganz fundamental um unseren moralischen Kompass und unser Verständnis der Welt. Das geben wir nicht gerne auf.

Darum kommt es in solchen Situation oft zu einem psychologischen Abwehrmechanismus: Das, was man im Rahmen seines Weltbildes vorher geglaubt hatte, glaubt man weiter – und sucht sich bequeme Erklärungen, warum das eigene Weltbild doch stimmt, obwohl die Fakten klar dagegen sprechen. Zu diesem Befund kamen bereits 1956 der Sozialpsychologe Leon Festinger und seine Koautoren in der Studie «When Prophecy Fails» («Wenn Prophezeihungen scheitern»). In der Studie untersuchten die Forscher, was mit einer UFO-Sekte passierte, als das prophezeite Ende der Welt nicht eingetreten war. Einige Mitglieder verliessen die Sekte, aber viele Mitglieder blieben der Sekte treu und radikalisierten sich noch stärker.

Die Prophezeiungen der massnahmenkritischen Bewegung sind nicht eingetreten: Die Covid-Impfungen haben nicht Millionen oder Milliarden von Menschen umgebracht; Demokratie wurde nicht mit einer totalitären Diktatur ausgetauscht; Bill Gates hat uns doch nicht gechippt; und die Corona-Massnahmen wurden nicht für alle Ewigkeit verlängert. Diese Tatsachen dürften die Mitglieder der massnahmenkritischen Bewegung aber nur bedingt befrieden. Das übergeordnete, verschwörungs-theoretisch aufgeladene Weltbild bleibt.

Verschwörungsideologien sind anpassungsfähig

Wenn nun aber die Corona-Massnahmen bald aufgehoben sind, wogegen will die Bewegung dann inskünftig noch protestieren? Eine ähnliche Frage stellte sich vor etwas über einem Jahr bei der Verschwörungsbewegung QAnon: Wogegen sollte diese Bewegung noch kämpfen, wenn doch Trump aus dem Amt ist, der prophezeite «grosse Sturm» gegen die pädophile linke Elite ausblieb, und der sagenumwobene Q mit seinen kryptischen Botschaften komplett verstummte?

Entgegen der Erwartungen hat sich die QAnon-Bewegung nicht aufgelöst. Sie ist heute im Gegenteil stärker denn je – und sie hat sich von einem extremistischen Randphänomen im Internet zu einer gesellschaftlichen und politischen Kraft gewandelt, die einen ideologischen Schulterschluss mit rechtslibertären Akteuren und Parteien eingegangen ist. Längst geht es nicht mehr um die ursprünglichen Verschwörungsmythen rund um Trump, sondern um einen umfassenden gegen eine imaginierte linke (und jüdische) Weltverschwörung.

Eine ähnliche Anpassungsfähigkeit können wir auch bei der massnahmenkritischen Bewegung beobachten. So ist die Bewegung ist eine der treibenden Kräfte beim Referendum gegen das Medienpaket zugunsten der Medienförderung. Die Bewegung bekämpft erweiterte Medienförderung mit dem verschwörungstheoretisch aufgeladenen Argument, dass der Staat die Medien über Medienförderung noch stärker kontrollieren und die Bevölkerung noch stärker manipulieren wolle.

Wir können also bereits beobachten, dass sich die massnahmenkritische Bewegung von ihrem «Kerngeschäft» löst und ein übergeordnetes verschwörungstheoretisch-rechtslibertäres Narrativ bedient. Dieser politische Schulterschluss zwischen der massnahmenkritischen Bewegung und rechtslibertärer Ideologie zeigt sich auch in Umfragen zur Akzeptanz von Corona-Massnahmen; zum Beispiel in der 9. Corona-Umfrage des SRG von letztem Oktober.

Strukturen sind beständig

In den vergangenen zwei Jahren hat sich die massnahmenkritische Bewegung ausdifferenziert und professionalisiert. Was als spontane ad hoc-Proteste seinen Lauf nahme, entwickelte sich mit der Zeit zu prominenten Einzelfiguren, zu «alternativen» Medien (die dem journalistischen «Mainstream» als Teil der Verschwörung widersprechen) und zu Organisationen mit grossem Mobilisierungspotenzial. Die Bewegung ist heute nicht mehr nur eine Ansammlung von Menschen, die ihrem Frust spontan Luft machen. Die Bewegung hat Strukturen aufgebaut, die Bestand haben und nachhaltig sind.

Eine wichtige Rolle kommt hierbei den sogenannten «alternativen» Medien zu. Persönlichkeiten wie Daniel Stricker mit «StrickerTV» oder Roger Bittel mit «BITTEL TV» erreichen mit ihren Online-Kanälen fast täglich Zehntausende von Menschen und generieren für sich damit ein Einkommen, von dem sie leben können.

Solche «alternativen» Medien, die ein verschwörungsideologisches Weltbild bedienen, bilden mittlerweile ein Online-Ökosystem, das ein grosses Publikum erreichen kann und für dieses eine Art sprichwörtliche Informations-Blase darstellt. Dieses Ökosystem hat sich in inhaltlicher Hinsicht bereits während der Pandemie als flexibel erwiesen: Oft ging und geht es um die Pandemie, aber die ideologische Brille wurde auf einen allgemeinen verschwörungstheoretischen Duktus und eine rechtslibertäre bis reaktionäre Gesellschaftskritik ausgeweitet.

«Alternative» Medien und weitere Strukturen, die die massnahmenkritische Bewegung hervorgebracht hat, haben eine nicht zu unterschätzende «Festigkeit» – und sie verleihen der Bewegung ihre Anpassungsfähigkeit, ihr Themenspektrum zu erweitern.

Eine Frage der Identität

Ein weiterer Faktor, der dafür spricht, dass das letzte Kapitel der massnahmenkritischen Bewegung noch nicht geschrieben ist, ist ihre identitätsstifende Kraft. Das Gefühl der kollektiven Identität – ich bin Teil einer Gruppe, die meine Werte und Weltanschauung teilt – ist ganz allgemein eine der treibenden Kräfte jeder sozialen Bewegung. Das trifft auch für verschwörungstheoretisch aufgeladene Bewegungen wie eben die massnahmenkritische zu.

Das positive Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die sich für das Richtige, das Gute einsetzt, ist sehr stark und übersteuert «epistemische» Motive wie die Bereitschaft, Fakten als solche zu akzeptieren. Die Gruppenzugehörigkeit ist in der massnahmenkritischen Bewegung zudem wohl nocht stärker als in Bewegungen allgemein ausgeprägt, weil der sogenannte «Intergroup Bias» sehr intensiv bedient wird. Mitglieder der massnahmenkritischen Bewegung haben nicht nur das Gefühl, dass sie sich für das Richtige einsetzen. Sie grenzen sich auch ganz direkt von der Aussengruppe ab: Von der Politik, von den Medien und von den Unternehmen, die alle Teil der grossangelegten Verschwörung sind. Verschwörungsbewegungen operieren mit einem manichäischen Weltbild: Es geht um nicht weniger als den Kampf von Gut gegen Böse. Wer sich auf der Seite der Guten wähnt, lässt sich von «kleinen» Ungereimtheiten bei den Fakten nicht entmutigen.

Die Pandemie geht, der ideologische Überbau bleibt

Mit der massnahmenkritischen Bewegung ist eine gesellschaftliche Kraft entstanden, bei der es im Grunde nur noch vordergründig um Corona-Massnahmen geht. Die Corona-Massnahmen sind für die Bewegung vielmehr nur ein Symptom eines umfassend korrupten und unfairen Systems, nur eine Folge einer grossangelegten Verschwörung der Bösen gegen die Guten.

Die Pandemie war nur ein Katalysator für eine Weltsicht, die es schon gab – und die jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Mit dem Ende der Corona-Massnahmen (und dem hoffentlich baldigen Ende der Pandemie) wird der Bewegung ein Stück weit der Wind aus den Segeln genommen. Doch der ideologische Überbau der massnahmenkritischen Bewegung, der sich in den letzten zwei Jahren gefestigt hat, dürfte auch nach der Pandemie vielen Menschen und Gruppierungen Orientierung geben und Identität stiften. Nicht zuletzt, weil die rechtslibertäre Verschwörungsbrille der massnahmenkritischen Bewegung in einzelnen Fällen, wie z.B. bei der Gruppierung der «Freiheitstrychler», bereits vor der Pandemie existierte.

Dialog

Der «Dialog» lebt einerseits von Forschenden, die mit pointierten Meinungsbeiträgen das aktuelle Weltgeschehen kommentieren und einordnen – und andererseits von dir. Denn nur bei higgs hast du die Gelegenheit, auf Augenhöhe mit Scientists zu diskutieren. Bist du selbst Scientist und möchtest auf higgs etwas schreiben, was du schon immer loswerden wolltest? Melde dich bei uns: dialog@higgs.ch
Alle Beiträge anzeigen
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende