Der Krieg in der Ukraine tobt seit über einem Monat. Das Ausmass der Zerstörung nimmt von Stunde zu Stunde zu. Die brutale Strategie der Zermürbung der russischen Streitkräfte verursacht immer grösseres Leid in der ukrainischen Zivilbevölkerung. Es ist überdeutlich, dass die humanitäre Katastrophe wächst.
Aber der Krieg und das menschliche Leid der ukrainischen Bevölkerung bewegen und schockieren uns nicht mehr gar so stark wie zu Beginn. Die Friedensproteste werden weniger; die solidarischen Social Media-Profilbilder in ukrainischen Nationalfarben weichen gewohnten Selfies; bei Gesprächen im Büro oder im Freundeskreis ist der Ukraine-Krieg nicht mehr Thema Nummer eins.
Marko Kovic
Unsere sinkende Empathie gegenüber ukrainischen Kriegsopfern ist zumindest teilweise subtilen psychologischen Mechanismen geschuldet, die beeinflussen, wie stark und worauf wir emotional reagieren. Hier geben wir dir einen Überblick über die drei wichtigsten psychologischen Effekte.
Effekt 1: Wir gewöhnen uns auch an Schlimmes
Wir erleben und erfahren tagtäglich unzählige Reize und Eindrücke. Manche sind angenehm, andere unangenehm, und viele wiederkehrend. Bei wiederkehrenden Dingen durchlaufen wir bei unseren Reaktionen immer ein ähnliches Muster: Ein Reiz, eine Erfahrung, ein Erlebnis bewegt uns beim ersten Mal stark. Beim zweiten Mal schon etwas weniger stark. Beim zehnten Mal ist es fast so etwas wie Routine – wir nehmen den Reiz immer noch wahr, reagieren aber nicht mehr so intensiv auf ihn. Die erste Achterbahnfahrt ist ein grosser Adrenalinkick. Die zwanzigste Fahrt macht zwar immer noch Spass, ist aber längst nicht mehr so intensiv wie das erste Mal.
Kurz gesagt: Je öfter wir einem Reiz ausgesetzt sind, desto weniger stark regieren wir. Dieser Effekt ist als Habituation bekannt – also eine Gewöhnung. Diese spielt auch im Ukraine-Krieg eine Rolle. Die ersten Meldungen über den Angriff auf die Ukraine und die ersten Bilder der zivilen Opfer haben uns schockiert. Der stete Fluss an schlechten Nachrichten und an Bildern des menschlichen Leids blieb in den nächsten Tagen und Wochen konstant, aber sie hatten nicht mehr denselben Schock-Effekt. Wir haben uns relativ schnell an die negativen Reize gewöhnt.
Habituation ist unvermeidbar und als psychologischer Schutzmechanismus auch wertvoll. Unsere emotionale Bandbreite ist beschränkt. Würden wir bei jedem Kontakt mit einem negativen Reiz gleich intensive Emotionen verspüren, würde uns das rasch überfordern und womöglich anhaltenden traumatischen Schaden anrichten.
Effekt 2: Grosses Leid ist nur schwer fassbar
Ein einzelner Todesfall ist eine Tragödie. Eine Million Tote sind eine Statistik.
Diese Beobachtung, die der Legende nach der sowjetische Diktator Josef Stalin gemacht haben soll, bringt den Mechanismus des sogenannten Psychic Numbing, der psychologischen Abstumpfung, auf den Punkt. Unsere Fähigkeit, für Menschen, die Leid erfahren, Empathie zu empfinden, sinkt, je grösser die Anzahl der betroffenen Menschen ist.
Psychologische Abstumpfung ist, rational betrachtet, genau das Gegenteil dessen, wie wir auf wachsendes Leid reagieren sollten. Wenn zehn Menschen einen Unfall haben, müsste uns das eigentlich doppelt so stark bewegen wie, wenn fünf Menschen einen Unfall haben. Aber unser emotionales Bauchgefühl wird von steigenden Fallzahlen weniger stark angesprochen, weil dadurch der intuitiv empfundene menschliche Bezug verschwimmt und die Komplexität steigt. Ein solcher Abstumpfungs-Effekt konnte auch im Zuge der Coronavirus-Pandemie beobachtet werden: Mit der steigenden Zahl der Opfer wurde das damit verbundene Leid diffuser und abstrakter. Wenn weniger Menschen betroffen sind, fällt es uns einfacher, sie als Individuen, die empfindungsfähig und schutzbedürftig, wie wir selber sind, wahrzunehmen.
Dass wir psychologisch also abstumpfen, hat auch zur Folge, dass unsere Empathie am stärksten ist, wenn eine einzige Person, die wir klar als solche identifizieren können, das Opfer ist. In der Fachsprache heisst diese Zuspitzung psychologischer Abstumpfung Singularitäts-Effekt.
Effekt 3: Zu viel Mitgefühl macht müde
Menschen sind, alles in allem, moralisch gut: Wir wollen Leid verhindern und reduzieren, und wir wollen ganz allgemein Menschen, die Hilfe benötigen, helfen. Wenn wir uns aber in Sachen Empathie und Altruismus zu sehr verausgaben, kann es sein, dass wir eine Art emotionalen Burn-out erleben: Wir fühlen uns emotional und physisch erschöpft und können das hohe Niveau an Empathie nicht mehr beibehalten. Dieser Effekt ist als sogenannte Compassion Fatigue, Mitgefühls-Müdigkeit, bekannt.
Diese Müdigkeit wird oft bei Berufsgruppen, bei denen Empathie und Mitgefühl eine Rolle spielen, beobachtet. Menschen, die im Gesundheitssystem, bei Rettungsdiensten oder auch in der sozialen Arbeit tätig sind, gehören zu den typischen Risikogruppen.
Doch auch alle anderen Menschen können müde werden, Mitgefühl zu zeigen. Das zeigt sich gerade jetzt: In humanitären Krisen wie dem aktuellen Ukraine-Krieg sind wir alle den schockierenden Realitäten des menschlichen Leids ausgesetzt, nicht zuletzt durch die intensive mediale Berichterstattung. Der Ukraine-Krieg ist ein journalistisches Dauerthema; eine Schocknachricht folgt der anderen; der Live-Ticker des Grauens kennt kein Ende. Im heutigen Social Media-Zeitalter wird diese stete Berieselung durch das sogenannte Doomscrolling noch verstärkt: Wir sitzen an unseren Computern oder haben das Smartphone in der Hand und scrollen uns von Schocknachricht zu Schocknachricht.
Bis irgendwann ein psychologischer Sättigungspunkt erreicht ist. Vielleicht erleben wir nicht direkt ein Burnout, aber wir sind nicht mehr aufnahmefähig und wollen es auch nicht sein. Wie bereits in der Corona-Pandemie legen wir irgendwann das Smartphone beiseite und ignorieren den nicht abreissenden Strom an negativen News. Dieser Effekt wird durch die sogenannte News Fatigue bestärkt: Wenn Medien sehr intensiv über ein bestimmtes Thema berichten, fühlt sich das Publikum dadurch erschöpft und ausgelaugt – und beginnt, Nachrichten zum Thema bewusst zu vermeiden.
Wie wir unsere Empathie aufrechterhalten können
Unsere abnehmende Anteilnahme mit den ukrainischen Kriegsopfern bedeutet nicht, dass wir schlechte Menschen sind – ein gewisses Mass an emotionaler Abstumpfung im Zuge humanitärer Katastrophen ist psychologisch unvermeidbar. Gleichwohl müssen wir uns bewusst sein, dass unsere abnehmende Empathie mit der ukrainischen Bevölkerung auch politische Folgen hat: Wenn der Aufschrei abklingt und eine gewisse resignierte Akzeptanz der Situation an seine Stelle tritt, profitiert letztlich der Kreml. Abnehmende Empathie und Betroffenheit bedeutet nämlich auch weniger politischen Druck gegen den Kreml.
Was ist nötig, um der kurzen Halbwertszeit unserer Empathie entgegenzuwirken? Ein wichtiger Schritt wäre, dass journalistische Medien überdenken, wie sie über den Krieg berichten. Im Moment findet eine Nonstop-Berichterstattung statt, die nicht zuletzt von Katastrophenszenarien und Spekulation geprägt ist. Seit Wochen hören wir beispielsweise, Putin stehe kurz davor, Atomwaffen einzusetzen. Bei solchen spekulativen Horrormeldungen rund um die Uhr ist Abstumpfung vorprogrammiert. Klüger wäre es, evidenzbasierter, fokussierter und gebündelter zu berichten. Weniger Live-Ticker, mehr verifizierte Substanz. Zudem sind auch Reportagen zu repräsentativen Einzelschicksalen wichtig. Im bis heute andauernden brutalen Krieg in Syrien wurden bis heute Hunderttausende Menschen getötet und Millionen vertrieben. Empathie für die Opfer stellte sich im Westen aber nicht durch die Statistiken, sondern durch Einzelschicksale wie den 2015 an der türkischen Küste ertrunkenen Jungen Alan Kurdi ein.
Eine andere Form von Empathie
Ein zweiter Schritt betrifft uns als Individuen. Wir müssen zu einer anderen Form der Empathie finden; weg von affektiver und hin zu sogenannter kognitiver Empathie. Affektive Empathie ist der unmittelbare Schock und das unmittelbare Mitgefühl, oder Mitleiden, das wir zu Beginn empfunden haben. Diese Art der Empathie verfliegt schnell. Kognitive Empathie bedeutet im Gegensatz dazu, dass wir intellektuell in der Lage und gewillt sind, zu verstehen, warum das wachsende Leid in der Ukraine eine moralische Katastrophe ist, auch wenn wir selbst das Leid als solches nicht direkt mitempfinden.
Es ist menschlich, im Lichte grossen Leids wie im Ukraine-Krieg mit der Zeit emotional abzustumpfen. Wir stehen aber in der moralischen Pflicht, unsere kurzlebige affektive Empathie in rationale und nachhaltige Bahnen zu lenken. Leid verschwindet schliesslich nicht, weil wir weniger daran denken.