Das musst du wissen

  • Die Bedingungen der Ukraine und Russlands für einen Frieden liegen weit auseinander.
  • Keine der beiden Seiten kann oder will ihr Gesicht verlieren.
  • Ein Verhandlungs-Experte der Universität Cambridge zeichnet die schwierige Gratwanderung zu einer Einigung vor.
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Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hält mit unverminderter Härte an. Dabei erklärte der Kremlsprecher Dmitri Peskov Anfang März, Russland könne die Militäroperation unmittelbar beenden. Was vordergründig wie ein Friedensangebot klingt, kommt in Wahrheit der Forderung einer ukrainischen Kapitulation gleich. Denn Russland knüpft sein Angebot an vier Bedingungen: Einen dauerhaften Verzicht der Ukraine auf einen Nato-Beitritt, die Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die Anerkennung der russischen Annexion der Krim sowie die Demilitarisierung der Ukraine. Auch wenn die Ukraine diese Bedingungen kaum akzeptieren wird: Sie sind der Rahmen für Friedensverhandlungen. Innerhalb dieses Rahmens werden beide Seiten Zugeständnisse machen müssen, analysiert Marc Weller, britischer Experte für internationales Recht, in einer kürzlich erschienenen Situationsanalyse sowie einem Leitfaden für Verhandlungen.  Für ein Kriegsende muss es also gelingen, die Vorschläge des Kremls am Verhandlungstisch so zu formen, dass sie für beide Seiten akzeptabel sind. Hierfür macht Marc Weller eine Reihe von Vorschlägen.

Marc Weller

Marc Weller ist Professor für internationales Recht und Verfassungsforschung an der Universität von Cambridge. Als Berater der Vereinten Nationen nahm Weller bereits an verschiedenen Friedensverhandlungen teil, darunter im Kosovo, im Jemen und in Syrien.

Nato-Beitritt aufschieben statt absagen

Russland fordert, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt. Dies schliesst das internationale Recht jedoch aus: Die freie Bestimmung über die eigene Aussenpolitik – inklusive der Wahl der Bündnispartner – darf von keinem anderen Staat angegriffen werden. Dass die Ukraine auf Druck Russlands dauerhaft auf einen Nato-Beitritt verzichtet, lässt sich völkerrechtlich also gar nicht umsetzen. Möglich wäre laut Marc Weller jedoch ein freiwilliger Verzicht der Ukraine für einen gewissen Zeitraum – also ein Moratorium, welches von der Nato bestätigt würde.

Auch eine vollständige Demilitarisierung der Ukraine hält Weller für ausgeschlossen. Als Kompromiss hält der Verhandlungs-Experte es jedoch für realistisch, dass die Ukraine künftig davon absieht, schweres Kriegsmaterial, beispielsweise Mittel- und Langstreckenraketen, in gewissen Gebieten nahe der russischen Grenze sowie in den Oblasten Luhansk und Donezk zu stationieren.

Knackpunkt Unabhängigkeit

Auch die Forderung nach der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine ist aus Sicht des internationalen Rechts nahezu unmöglich. Keine Gebietsübernahme, die durch Androhung oder Anwendung von Gewalt erfolgt, solle als legal anerkannt werden, zitiert Weller aus einer Resolution der Vereinten Nationen. Auch hier befindet sich die Ukraine also im Recht. Als möglichen Kompromiss sieht Weller eine Sonderstellung der Regionen Luhansk und Donezk innerhalb der Ukraine, die der russischstämmigen Bevölkerung rechtliche Freiheiten einräumt und den beiden Regionen einen hohen Grad an Selbstverwaltung garantiert.

Noch schwieriger wird der Status der von Russland annektierten Krim-Halbinsel. Auch der Status der Krim hat keinerlei rechtliche Grundlage und lässt sich schwer verteidigen. Möglich wäre ein Balanceakt, die Russlands Annektion zwar formell nicht anerkennt, aber auch nichts am Status Quo ändert – laut Weller ein «leider realistischer Verhandlungsausgang». Dabei müssten analog zum Schutz der russischen Minderheit in Luhansk und Donezk die ukrainischen und tartarischen Minderheiten auf der Krim besonderen Schutz erhalten.

Kurzfristig sei ein Ende des Kriegs unwahrscheinlich, gesteht auch Marc Weller ein. Der Krieg läuft für die Ukraine besser als erwartet. Vor diesem Hintergrund könne Präsident Selenskyj derzeit kaum die enormen Zugeständnisse machen, die Russland fordert. Für Präsident Putin auf der anderen Seite seien die Konsequenzen eines Gesichtsverlusts gar noch grösser, was Verhandlungen schwer macht. Wie man sich einigt, hängt damit stark vom weiteren Verlauf des Kriegs ab: Auf der ukrainischen Seite steigt der Druck auf die Zivilbevölkerung, während in Russland der innenpolitische Druck auf Wladimir Putin zunimmt. Damit hält es Weller für möglich, dass am Verhandlungstisch eine Lösung gefunden werden kann, die Russland «ein paar Kriegstrophäen» zur Gesichtswahrung zugesteht. Aber eine Übereinkunft könne nur dann zustande kommen, wenn beide Seiten sich in einer Situation wiederfinden, in der sie keine andere – oder bessere – Wahl haben, schliesst Weller seine Analyse ab. Die Frage bleibt, wann es so weit ist.

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