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Als ich kürzlich einen Kommentar des bekannten Klimaforschers Reto Knutti retweetete, schaltete sich ein User ein, der behauptet, die Theorie vom Treibhauseffekt sei Quatsch, weil es unter Wolken kalt sei.
Diese Aussage ist wissenschaftlich nicht gerade falsch, aber zumindest nicht vollständig. Das weiss jeder Mensch, der schon einmal eine Frostnacht erlebt hat. Nächte mit Wolken sind wärmer – Frostnächte hingegen sind sternenklar.
Da ich immer möglichst sachlich argumentieren möchte, wies ich den User darauf hin, dass seine Aussage nicht mit der Physik übereinstimme. Und geriet damit in Teufels Küche.
Der User behauptete, ein ausgezeichneter Physiker zu sein und brachte ein anderes Argument, das ebenfalls nachweislich falsch war. Ich antwortete wieder nüchtern. Er wechselte das Thema – ich schrieb, dass ich sehr gerne diskutieren würde, aber eben sachlich.
Das brachte ihn definitiv in Kampfstimmung. Er warf mir vor, ich könne Äpfel von Orangen nicht unterscheiden und überhaupt sei mein Dauergrinsen am Fernsehen unerträglich.
Ok, ich kann nicht jedermann sympathisch sein. Aber meine letzte Moderation am Schweizer Fernsehen liegt nun doch schon zwanzig Jahre zurück.
Dann verwies der Mann auf weitere Tweets von sich, in denen er gegen die «Klimaverschwörung» kämpft, die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center als Inszenierung bezeichnet und behauptet, die Berichterstattung zur Terrorattacke auf Charlie Hebdo in Paris sei gefälscht.
Ich schrieb, es täte mir leid, dass er mein Angebot zu einer ernsthaften Diskussion nicht annehme, denn ich würde ihn wirklich gerne verstehen.
Erst jetzt zeigte mein virtuelles Gegenüber sein wahres Gesicht. Er antwortete: «Danke für Ihr nettes Gaslighting samt intellektuell hochstehender Argumente! Für Ausbünde an Intelligenz, Empathie, Tugend, Respekt, Anstand […] wie Sie habe ich meine Weapon of Astroturf(er) Destruction (WAD).» Dabei ein Bild mit Buchtiteln wie: «Die Weisheit der Psychopathen – Was wir von Heiligen, Spionen und Serienkillern lernen können», «Schlangen in Anzügen – Wenn Psychopathen zur Arbeit gehen».
Gaslighting und Astroturfing
Der Begriff Astroturfing bezeichnet – insbesondere in den USA – politische Public-Relations- und kommerzielle Werbeprojekte, die darauf abzielen, den Eindruck einer spontanen Graswurzelbewegung vorzutäuschen. Ziel ist es dabei, den Anschein einer unabhängigen öffentlichen Meinungsäusserung über Politiker, politische Gruppen, Produkte, Dienstleistungen, Ereignisse und Ähnliches zu erwecken, indem das Verhalten vieler verschiedener und geographisch getrennter Einzelpersonen zentral gesteuert wird.
Erst jetzt kapiere ich, der Mann betrachtet nicht sich als Aussenstehenden, sondern fühlt sich umgeben von Psychopathen wie mir, er fühlt sich verfolgt, wähnt sich im Krieg. Und mit ihm eine ganze Community mit eigentlichem Verfolgungswahn, die überzeugt ist, dass irgendeine Macht im Hintergrund alles steuert und uns manipuliert. Der Mann tut mir leid. Ich stelle ihn mir als frustrierten, von der Gesellschaft ausgeschlossenen Typen vor. Liege aber völlig daneben, wie eine kurze Recherche zeigt: Er ist Arzt mit eigener Praxis in Wettingen. Und ich kapiere: Es sind intelligente und integrierte Personen unter uns, die mit unserer Gesellschaft im offenen Krieg stehen. Und das macht mir nun wirklich Angst.