Nina und Marc* waren die typischen Klienten: verheiratet, beide Mitte 30 und so ziemlich alles erreicht. Feste Jobs, grosse Wohnung, schön eingerichtet. Nun sollten die Kinder kommen, zwei wünschten sie sich. Ein Jahr lang hatten sie nicht verhütet. Aber Nina wurde nicht schwanger.

Jedes fünfte Paar, das ein Baby zeugen möchte, schafft es innerhalb von zwölf Monaten nicht. Bei Nina und Marc aber schien die Lage viel schlimmer, wie eine Untersuchung ihrer Fruchtbarkeit zeigte. Die Eisprünge der Frau: viel zu selten. Die Spermien des Mannes: viel zu langsam. Auch Ninas Alter war ein Problem. Ab 35 sinkt die Chance auf eine erfolgreiche Schwangerschaft rapide. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser Lage überhaupt ein Kind zu zeugen: höchstens ein paar Prozent, erklärte der Arzt eines Kinderwunschzentrums in einer deutschen Grossstadt. Das Paar sei so gut wie unfruchtbar.

Für Reproduktionsmediziner ist menschliche Fruchtbarkeit messbar und vorhersagbar. Doch stimmen diese Prognosen überhaupt? Forscher können zwar Frauen und Männer untersuchen, denen es nicht gelingt, ein Kind zu zeugen. Aber noch immer wissen sie fast nichts darüber, was im Körper einer Frau nach der Befruchtung passiert. Und manchmal bekommen vermeintlich unfruchtbare Paare auf einmal Babys.

Wohlgeformte Spermien

Diese Babys sind keine urbane Legende, es gibt sie, und zwar überraschend oft. Das zeigt etwa eine gemeinsame Erhebung des Imperial und des King‘s College London. Von 403 Paaren, die sich in einer Kinderwunschklinik hatten behandeln lassen, bekamen 96 innerhalb von sechs Jahren auf natürliche Weise ein eigenes Kind. Fast jedes vierte Paar also. Irren sich Ärzte so oft?

Reproduktionsmediziner messen bei Frauen im Blut den Spiegel der Geschlechtshormone und den der Schilddrüsenhormone. Hat eine Frau zu wenige Östrogene, kann das erklären, weshalb der Eisprung ausbleibt. Die Geschlechtshormone sorgen auch für den Aufbau der Gebärmutterschleimhaut und bereiten das Organ auf die Schwangerschaft vor. Dann wird noch das Anti-Müller-Hormon im Blut bestimmt. Es soll anzeigen, wie viele Eizellen in den Eierstöcken noch vorhanden sind.

Männer geben Spermaproben ab. Diese sehen sich Labormitarbeiter unter dem Mikroskop an und zählen Samenzellen. Mindestens 15 Millionen pro Milliliter sollten es sein. Zudem wohlgeformt, mit beweglichem Schwanz und ovalem Kopf. Mindestens ein Drittel der Spermien sollte geradeaus schwimmen, nicht nur im Kreis herum. Das ist die aktuelle Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für männliche Fruchtbarkeit. Sie gilt seit dem Jahr 2010, vorher war sie strenger. Und nun wird wieder über eine weitere Lockerung debattiert.

Wirklich unfruchtbar?

«Viele Parameter, die benutzt werden, um die menschliche Fruchtbarkeit zu erfassen, werden der Wirklichkeit nicht gerecht», sagt Klaus Weber, Spermienforscher im Labor Anapath im solothurnischen Oberbuchsiten. Manche Männer trügen zum Beispiel zu warme Kleidung, bevor sie ihre Probe im Labor abgeben. «Allein das mindert die Zahl lebender Spermien drastisch.»

Tatsächlich schwankt die Qualität der sogenannten Spermiogramme im Tagesverlauf viel stärker, als Experten einst dachten. In einer neuen Studie aus den USA gaben 763 Männer immer wieder Proben ab. Diese zeigten vor allem eines: An ihnen liess sich die Fruchtbarkeit kaum messen, mal schien sie hoch, dann gefährlich niedrig. Doch hatten sich alle diese Männer bereits als fruchtbar erwiesen: Jeder hatte eine Frau, die gerade ein Kind von ihm erwartete.

Eine Studie aus China kam zu einem ähnlichen Ergebnis, hier gaben über 1200 Männer eine Spermienprobe ab. Mehr als ein Drittel der Männer waren nach WHO-Kriterien unfruchtbar oder sehr eingeschränkt fruchtbar. Doch alle diese Männer zeugten innerhalb eines Jahres ein Kind.

Man weiss zu wenig

«Vieles, was man über die Fortpflanzung zu wissen glaubt, gehört eher in den Bereich der Vermutungen», sagt Gunther Wennemuth, Leiter des Instituts für Anatomie am Universitätsklinikum Essen. Etwa das Wettrennen, die Spermien angeblich im Körper der Frau veranstalten, um am schnellsten an die Eizelle zu gelangen. «Das stimmt in dieser Form nicht», erklärt Wennemuth. Spermien bilden Teams, um voranzukommen, hat der Forscher herausgefunden. Zwei, drei oder vier Keimzellen stecken ihre Köpfe zusammen. Im Team, so wies Wennemuth nach, schwimmen sie doppelt so schnell wie Einzelkämpfer. Kooperation statt Konkurrenz ist gerade am Anfang der Wanderung zur Eizelle von Vorteil. Am Ende schafft es gewöhnlich trotzdem nur ein Spermium in die Eizelle.

«Es ist bis heute nicht absolut klar, was ein gutes Spermium von einem schlechten unterscheidet», sagt Hubert Schorle, Pathologe von der Universität Bonn, der im vergangenen November einen weiteren Glaubenssatz widerlegte. Er zeigte mit Versuchen an Mäusen, dass aus Spermien, die man für minderwertig hielt, doch Nachwuchs entstehen kann.

Die meisten Frauen und Männer, die wegen Unfruchtbarkeit behandelt würden, seien vermutlich gar nicht unfruchtbar, sagt der deutsche Reproduktionsmediziner Christian Gnoth, sondern nur vermindert fruchtbar. Mit medizinischen Mitteln könne man ihnen meist helfen. Auch Nina und Marc, denen die Ärzte eine Fruchtbarkeit von höchstens ein paar Prozent vorausgesagt hatten, entschieden sich schliesslich für die teuren Behandlungen. Doch nach einer Insemination und zwei Versuchen mit einem im Labor gezeugten Embryo brachen sie die Sache verzweifelt ab.

Vier Monate später spürt Nina ein Ziehen in ihren Brüsten. Ihre Monatsblutung ist ausgeblieben, wie schon so oft. Sie besorgt einen Schwangerschaftstest und sagt zu Marc, er solle auf den Streifen schauen, sie ertrage kein negatives Ergebnis mehr. Das muss sie auch nicht: Ihr Sohn ist heute ein halbes Jahr alt.

* Namen der Redaktion bekannt.

Die Erstversion dieses Beitrags erschien am 18. August 2017.
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