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Welche Folgen wirtschaftliche Ungleichheit haben kann, ist recht gut untersucht: Sie beeinflusst die politischen Überzeugungen der Menschen in Richtung des rechten politischen Spektrums, sie führt zu einer geringeren politischen Beteiligung, untergräbt das Vertrauen in die Demokratie und fördert die Sympathie für starke und autoritäre Führer. Das ist wissenschaftlich hinlänglich belegt.

Jetzt hat ein soziologisches Forschungsteam untersucht, welchen Effekt Ungleichheit auf die Bereitschaft von Menschen hat, Verschwörungstheorien zu glauben. Befragt wurden 515 Personen zwischen 19 und achtzig Jahren – in etwa zu gleichen Anteilen Männer und Frauen. Die Resultate wurden kürzlich im Journal of Experimental Social Psychology veröffentlicht.

Tatsächlich gibt es einen Zusammenhang: Je grösser die wirtschaftliche Ungerechtigkeit, desto grösser ist die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Oder anders gesagt, wer ökonomisch schlecht gestellt ist, glaubt eher, dass bei politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen irgendeine Organisation, Gruppierung oder auch Einzelperson im Hintergrund die Strippen zieht.

Wobei nicht die echte, messbare ökonomische Ungleichheit den Ausschlag gibt, sondern die empfundene. Das heisst, ausschlaggebend ist nicht zum Beispiel das reale Einkommen oder Vermögen, sondern das Gefühl, zu kurz zu kommen. Und damit eng verbunden das Gefühl, dass die Gesellschaft zusammenbricht – die Wissenschaft redet dabei von der sogenannten Anomie – und dass man dabei selbst auf der Seite der Verlierer steht.

Verheerend dabei ist, dass das Ganze ein Teufelskreis ist. Die Empfindung von Ungerechtigkeit lässt einen an ein Auseinanderfallen der Gesellschaft glauben. Das macht anfällig für Verschwörungstheorien. Und wer diesen einmal verfallen ist, ist noch mehr davon überzeugt, dass die Gesellschaft auseinanderbricht. Und wird somit noch anfälliger für Verschwörungsglauben. Und so weiter.

Anomie kann verschiedene Reaktionen auslösen

Das Phänomen der Anomie, dass Leute also ein Auseinanderfallen der Gesellschaft empfinden, hat der US-amerikanische Soziologe Robert King Merton (1910–2003) untersucht. Und er hat fünf mögliche Reaktionsmuster der Menschen identifiziert:

  • Konformität: Man konzentriert sich auf die Ziele, die eine Gesellschaft mit den zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen kann.
  • Innovation: Man sucht nach neuen Mitteln zur Erreichung dieser Ziele.
  • Rückzug: Man will von allem nichts mehr wissen, zieht sich in seine eigene Welt zurück. Typischerweise sind das Aussteiger, Drogenabhängige oder Leute, die sich beinahe besessen einer anderen Tätigkeit zuwenden.
  • Ritualismus: Man nutzt die innerhalb einer Gruppierung vorgeschriebenen Mittel und ignoriert geflissentlich die negativen Konsequenzen. Man führt also Rituale um des Rituals willen – auch wenn sie nicht zum Ziel führen.
  • Rebellion: Man lehnt sowohl die gesellschaftlichen Ziele als auch die gängigen Mittel ab und will ein eigenes System aufbauen.

Alle fünf Reaktionstypen haben wir während den zwei Jahren Pandemie erlebt. Wobei die Anhänger der Rebellion und der Rituale – zum Beispiel mit den Demos für die Abschaffung der Pandemiemassnahmen als sie praktisch alle schon abgeschafft waren, und mit ihren Trychlen wesentlich lauter und auffälliger waren als die Konformen, Innovativen und Zurückgezogenen.

Warum Menschen, die glauben zu kurz zu kommen, eher Verschwörungsvorstellungen haben, erklären die Sozialforschenden damit, dass diese Theorien oft Wiederherstellung von Kontrolle und Ordnung versprechen. Dass also die Sehnsucht nach Sicherheit eine grosse Rolle spielt.

Ein einträgliches Geschäftsmodell

Fazit: Ungleichheit fördert den Glauben an Verschwörungstheorien. Nicht nur die reale Ungleichheit, sondern eben auch die empfundene. Und die ist manipulierbar. Das heisst, wenn man den Leuten einredet, dass sie zu kurz kommen, glauben sie auch daran. Man kann die Spaltung der Gesellschaft herbeireden und kreiert so einen idealen Nährboden für Verschwörungstheorien.

Bloss, dass jene, die den Boden für diese Saat vorbereiten, indem sie einschlägige Publikationen verbreiten, nicht zu den Verlierern gehören. Sie schlagen Profit aus jenen, die vermeintlich den Kürzeren ziehen. Sie sind die Gewinner, die den anderen einreden, Verlierer zu sein. Ein einträgliches Geschäftsmodell.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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