Gibt es heute mehr Verschwörungstheorien als früher?

Die Daten dazu sind unklar. Verschwörungsideologien sind jedenfalls präsenter, weil mehr darüber gesprochen wird. Die Themen wechseln, verlieren an Bedeutung, verschwinden meistens aber nicht ganz. Theorien zum Attentat an Kennedy oder zum 11. September gehören zu unserer Kultur: Manche glauben daran, andere nicht, alle wissen aber, dass es sie gibt.

Sie sprechen lieber von Verschwörungsideologie. Weshalb?

Der Begriff betont, dass es mehr um eine Weltanschauung geht als um die Frage, ob die Theorie wahr ist. Es ist eine Haltung, eine bestimmte Art, Informationen und die Aktualität einzuordnen. Eine Verschwörungsideologie ist in der Regel nicht etwas Passives. Es ist keine Bewegung, in die man hineingezogen wird, sondern eher ein bewusster Akt, sich subversiven oder sogar verbotenen Fakten zuzuwenden. Anhängerinnen von Verschwörungsideologien werden Teil einer Gegenkultur. Sie müssen die Codes lernen, die richtigen Reflexe, damit sie Antworten auf jede Kritik haben. Normalerweise versteckt man sich nicht, sondern steht öffentlich zu seiner Überzeugung.

Neurowissenschaftler untersucht Gesellschaft

Sebastian Dieguez, Forscher für Neurowissenschaften an der Universität Freiburg, interessiert sich für die interdisziplinäre Analyse von gesellschaftlichen Phänomenen wie die Entstehung von Überzeugungen. Gemeinsam mit Sylvain Delouvée veröffentlichte er im Oktober 2021 das Buch «Le complotisme».

Ist eine Verschwörungstheorie immer falsch? Oder wird sie eher durch ihre Methode als durch ihre Folgerung definiert?

Ich interessiere mich in erster Linie für kulturelle und psychologische Aspekte dieser Frage und weniger für das Fact Checking. Die Theorien beruhen auf intellektuell unlogischen Behauptungen. Bei einer tatsächlichen Verschwörung – und davon gab es zahlreiche, wie Watergate oder die CIA-Programme – haben die Verschwörungstheoretiker ihre Theorie noch nie den neuen Erkenntnissen angepasst. Offensichtlich ist das nicht der richtige Ansatz. Sobald eine Verschwörung aufgedeckt wird, löst sie sich auf, es kommt zu Reaktionen wie Verhaftungen. Im Gegensatz dazu sind Verschwörungstheorien unzerstörbar – vor allem wegen ihrer rekursiven Struktur: Zur Hauptverschwörung wird eine Nebenverschwörung hinzugefügt, etwa dass die Regierung Fakten verheimlicht, dann eine geheime Macht, von der die Regierung manipuliert wird, und so weiter. So wird der fehlende Beweis für die erste Verschwörung zum Beweis für die zweite.

Sind Verschwörungsideologien eine Auswegsuche aus gesellschaftlichen Problemen wie moralischer Orientierungslosigkeit oder Komplexität der Welt?

Es handelt sich um ein vielfältig anwendbares Hilfsmittel. Es kann Sicherheit vermitteln oder helfen, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, wobei die Bösen die Fäden ziehen und für alle Probleme verantwortlich sind. Von extremistischen oder sektiererischen Gruppen wird es benutzt, um ihre Macht zu festigen und ihre Wichtigkeit zu begründen. Das Gefühl von «Wir sind allein gegen alle» stärkt die Gruppenidentität, und man fühlt sich nicht als Opfer, sondern als wache Widerstandskämpferin. Man pflegt das Bild der Gegenpartei als absolutes Übel und verweigert den Dialog, da sonst der Schwung verloren geht und nur noch die banale demokratische Debatte bliebe.

Sie schreiben auch Satire. Gibt es Gemeinsamkeiten?

Ich untersuche die Mechanismen, die beiden Phänomenen gemeinsam sind, wie etwa das kontrafaktische Denken (sich vorstellen, was hätte passieren können, wenn dies oder jenes passiert wäre, Anm. d. Red.). Satire schafft eine lächerliche Welt, die Defizite in der Gesellschaft aufdeckt. Verschwörungsideologien erschaffen eine ausgeprägt negative Welt, um ihre eigene Utopie von Harmonie und Demokratie zu betonen. Beide kommentieren die Welt.

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Hier sind alle Beiträge aufgeführt, die wir vom Horizonte Magazin übernommen haben. Horizonte berichtet über Neuigkeiten aus der Wissenschaft und erörtert forschungspolitische Fragen von internationaler Bedeutung. Horizonte wird vom Schweizerischen Nationalfonds in Zusammenarbeit mit den Akademien der Wissenschaften Schweiz herausgegeben.
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