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Christian Jackowski ist Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern. Das Interview mit ihm entstand im Rahmen der Talk-Reihe «Wissenschaft persönlich».

Herr Jackowski, Sie haben mir das Bild eines toten Jungen gezeigt. Selbst ich als Laie habe darauf schwere Gewalteinwirkung erkannt. Aber offiziell war es ein natürlicher Tod. Wie kann ein solcher Fehler passieren?

Ich kann Ihnen sagen, das passiert regelmässig. Immer wieder landen bei uns in der Rechtsmedizin sogar Leichen, bei denen zuvor niemand gemerkt hatte, dass sie erschossen wurden.

Wie ist das denn möglich?

Das ist gar nicht so unwahrscheinlich. Zum Beispiel bei Schüssen in den Hinterkopf oder in den Rücken. Liegt ein Toter auf dem Rücken, kann es sein, dass der Notarzt das Loch einfach nicht sieht. Er kommt an den Tatort, beginnt sofort mit der Reanimation, gibt dann auf und erklärt den Menschen für tot. Oder der Arzt sieht das Loch, deutet es aber falsch. So wurde in Bern ein junger Mann, der an Epilepsie litt, tot in seiner Wohnung gefunden. Die Wunde am Kopf wurde vom Arzt als Sturzverletzung interpretiert. Erst in der Rechtsmedizin sahen wir, dass es ein Einschussloch war. Im Jahr 2016 hatten wir einen ähnlichen Fall. Ein junger Mann sitzt zusammengekauert auf einer öffentlichen Parkbank. Die Notärztin kommt und reanimiert ihn, aber merkt nicht, dass er erschossen wurde und ein Loch im Kopf hat. Eine Kleinkaliberwaffe hinterlässt kein grosses Loch, und wenn die Person dazu noch dichte Locken hat … Zudem sieht ein Arzt solche Verletzungen so selten, dass er sie schon falsch interpretieren kann.

Immerhin haben Sie es noch entdeckt.

Ja, aber wir sehen nur die Fälle, bei denen wir die Leiche aus irgendeinem Grund trotzdem noch untersuchen müssen. Das ordnet ja die Staatsanwaltschaft an. Ich – und alle anderen Rechtsmediziner – sind überzeugt, dass viele Delikte gar nicht erst als solche erkannt werden.

«Die Schweizer Unfallstatistiken, die Todesursachenstatistiken – die stimmen hinten und vorne nicht.»

Für Deutschland gibt es Zahlen: Jedes zweite Tötungsdelikt wird nicht erkannt.

In Deutschland weiss man das, weil es Studien dazu gibt. Dort ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass jeder Leichnam, der kremiert wird, davor durch einen Rechtsmediziner untersucht wird. So werden jedes Jahr zahlreiche Unfälle, Tötungsdelikte und Suizide rausgefischt, die fälschlicherweise als natürliche Todesursache deklariert waren. In der Schweiz gibt es keine solche Leichenschau vor dem Kremieren, darum dürfte die Dunkelziffer enorm hoch sein. Schon die Einzelfälle, die wir sehen, deuten darauf hin. Wenn sogar Schüsse oder Messerstiche übersehen werden, bleiben schwierigere Diagnosen erst recht unerkannt: Tod durch Ersticken, Strom, Vergiftungen. Die schlüpfen durch, mit Sicherheit.

René Ruis

Der Rechtsmediziner Christian Jackowski in seinem Labor an der Uni Bern vor dem Magnetresonanztomographen.

Dann ist der perfekte Mord gar keine Ausnahme, sondern die Regel …

Perfekt oder nicht, ist eine Frage der Herangehensweise. Bei einem perfekten Mord würde der Täter alles unternehmen, um Spuren zu verwischen oder zu verhindern. Letztlich ist es wahrscheinlich aber viel einfacher, mit einem Mord einfach so durchzukommen. Ich werde mich schwer hüten, jetzt zu sagen, wie man es am besten macht. Aber unser System hält viele Lücken bereit. Das finde ich sehr bedauerlich. In Deutschland gibt es über 20 Studien darüber. In der Schweiz keine einzige. Das gibt einem schon zu denken. Darum will ich darauf aufmerksam machen, dass man einem Arzt eine seriöse Leichenschau zugestehen sollte. Das beinhaltet, den Leichnam zu entkleiden. Aber Sie können sich vorstellen, wie schwierig das für einen Hausarzt ist: Man kommt zu einem familiären Todesfall und muss die Angehörigen bitten, den Raum zu verlassen, damit man ihre Oma gründlich untersuchen kann. Eigentlich ist das so vorgegeben. Auf jeder Todesbescheinigung steht: «Nach persönlich vorgenommener Untersuchung habe ich den Tod festgestellt.» Bloss findet diese Leichenschau in der Praxis nur sehr unvollständig oder gar nicht statt. Und solange das so ist, werden halt Löcher im Hinterkopf übersehen. Hier müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Wollen wir das?

Sie würden dazu gerne eine Studie in Bern machen. Diese ist seit 2014 vorbereitet, doch bis heute hat sie nicht stattgefunden. Weshalb?

Das ist eine bizarre Situation. Ich möchte im Kanton Bern zeitlich begrenzt etwas machen, was in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben ist. Würde die Leichenschau dort nicht gemacht, wäre es nicht legal. Und hier brauchen wir Jahre, um eine kleine Studie politisch durchzubringen. Momentan beschäftigt sich der Grosse Rat mit meinem Vorschlag. Ich kann nicht nachvollziehen, dass das so ein Politikum ist.

Ein Berner Bestatter hat gesagt, einen Leichnam zu untersuchen sei eine schwere Störung der Totenruhe.

Das ist es aber nicht. Die Störung des Totenfriedens ist im Strafgesetzbuch klar geregelt. Eine Untersuchung des Leichnams ist definitiv keine solche Störung, das haben wir auch aus verschiedenen juristischen Blickwinkeln abgeklärt. Ich respektiere, dass man aus persönlichen Gründen die Untersuchung eines Leichnams als Eingriff empfinden kann. Demgegenüber steht aber, dass man im heutigen System nicht nach Fehlern schaut. Und dass darum viele Täter um uns herum sind, und keiner weiss, dass sie einen Mord auf dem Gewissen haben. Wir Rechtsmediziner sehen das. Und ich wäre kein guter Rechtsmediziner, wenn ich davor einfach die Augen verschliessen würde.

Johanna Bossart

Christian Jackowski im Gespräch auf der Bühne von «Wissenschaft persönlich».

Bei Kriminalfällen sehe ich ein, dass diese aufgedeckt werden sollten. Was aber bringt es, wenn wir Suizide besser erkennen?

Ob ein Fall ein Suizid, ein Unfall oder ein Tötungsdelikt war, wird erst nach der Untersuchung klar. Wenn Sie nur einen schwer verletzten Leichnam ohne Information vor sich haben, wissen sie zunächst nicht: Ist der von der Brücke gesprungen, ist er vom Auto überfahren worden, oder ist er erschlagen worden? Das stellen wir erst im Rahmen der Untersuchung fest. Wenn der Leichnam aber gar nicht zur Untersuchung kommt, gilt er meist einfach als natürlicher Tod. Damit verfälschen wir die Statistiken. Die Schweizer Unfallstatistiken, die Todesursachenstatistiken – die stimmen hinten und vorne nicht. Da steht das drin, was die Ärzte glauben, woran jemand verstorben ist. Ein Klassiker ist der Schenkelhalsbruch. Eine alte Person stürzt, bricht sich den Schenkelhals, und verstirbt zwei Wochen später daran. Das ist ein klarer Unfalltod. Aber die meisten von denen werden als natürlicher Tod attestiert. Deshalb haben wir in der Todesursachenstatistik viel weniger tödliche Unfälle als es eigentlich gibt.

Was hätten wir davon, wenn die Statistik richtig wäre?

Wir könnten gezieltere Prävention machen. Und die Forschung im Gesundheitswesen wäre sinnvoller ausgerichtet. Im Moment steckt der Staat dort Geld rein, wo laut Todesursachenstatistik am meisten Bedarf herrscht. Doch warum ist die Todesursache Herz-Kreislauferkrankung so hoch in der Statistik? Weil alle Ärzte, die nicht wissen, an was ein Patient gestorben ist, in die Statistik gucken. Dort sehen sie, dass eine Herz-Kreislauferkrankung das Wahrscheinlichste ist, und kreuzen diese an – so bleibt Herz in der Statistik oben. In Japan ist es anders: Dort steht der Hirnschlag zuoberst. Man müsste die Todesursache einfach besser untersuchen, um Fakten zu erhalten, die zeigen, was beforscht werden muss. Erst dann hat die Gesellschaft den grössten Nutzen aus der Forschung. Und erst wenn man genau weiss, wie viele Suizide wir eigentlich haben, ist klar, wieviel Prävention nötig ist. Und bei Tötungsdelikten kann sich die Gesellschaft erst dann vor weiteren Delikten schützen, wenn sie diese erkennt.

Serie

Die Wissenschaft des Todes

Wie Christian Jackowski mit der Belastung in seinem Beruf umgeht, liest du im 2. Teil der Serie über die Wissenschaft des Todes.

Im 3. Teil sagt Christian Jackowski, wie er den Tod definiert und untersucht.

Im 4. Teil der Serie zur Wissenschaft des Todes erfährst du, dass der Tod kein plötzlicher Moment, sondern ein schrittweiser Prozess ist.

Wissenschaft persönlich

«Wissenschaft persönlich» ist ein Live-Event, in dem Gäste aus der Wissenschaft nicht nur über Fakten reden, sondern auch über sich selbst – über ihre Begeisterung, ihre Niederlagen und ihre Träume. Der rund einstündige Talk findet regelmässig statt.
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