Das musst du wissen

  • In Säugetieren und Vögeln zirkulieren Millionen von Viren, von denen einige auf den Menschen überspringen könnten.
  • Dies ist ein schrittweiser Prozess und er wird unter anderem durch den Handel mit Wildtieren angetrieben.
  • So können, etwa in Südostasien, neue Krankheiten entstehen. Dies müsse vor Ort besser überwacht werden, warnt IPBES.

In Zukunft könnten Pandemien häufiger vorkommen und tödlicher verlaufen. Davor warnt das UN-Expertengremium für Biodiversität IPBES in einem Bericht vom 29. Oktober. Diese Warnung griffen mehrere andere internationale Organisationen in einem am selben Tag veröffentlichten Weissbuch auf. Darin wird die Rolle von Einheimischen bei der Früherkennung neu auftretender Infektionskrankheiten betont.

Warum das wichtig ist. Mehr als 70 Prozent aller neu auftretenden Krankheiten, einschliesslich aller neueren Pandemien wie Influenza, AIDS und Covid-19, werden mit Krankheitserregern tierischen Ursprungs in Verbindung gebracht. Da die Kontakte zwischen Menschen und Wildtieren immer mehr zunehmen, müssen wir in Zukunft auch mit immer mehr neu auftretenden Krankheiten rechnen. Denn wegen der Nähe zwischen Wildtieren und Menschen können Mikroben ihre natürlichen Lebensräume verlassen und auf den Menschen überspringen.

Die Anzahl potenzieller Krankheitserreger. In den Tiergruppen, die als Hauptquelle für neu auftretende Viren gelten, also in Säugetieren und Vögeln, kennen wir etwa 2000 Viren. Wahrscheinlich gibt es aber, statistischen Studien zufolge, in diesen Tieren Millionen Viren, von denen viele den Menschen befallen könnten.

Wie neue Krankheiten entstehen. Wie kommt es überhaupt dazu, dass sich ein Virus vom Tier auf den Menschen überträgt? Der Prozess besteht aus mehreren Schritten:

  • Zunächst springt ein Virus aus einem sogenannten Reservoir auf den Menschen über. Das Reservoir ist die Tierart, welche das Virus normalerweise befällt. Das Virus infiziert Menschen aber nur sporadisch.
  • Durch wiederholten Kontakt kann sich das Virus allmählich auch unter den Mensch verbreiten, also von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Das führt zu lokalen Ausbrüchen der Krankheit.
  • Wenn das Virus ansteckend ist, kann es sich durch die Mobilität des Menschen schnell ausserhalb seines Ursprungsgebiets verbreiten. Geschieht dies in einem stark vernetzten Gebiet – wie etwa in Südostasien – kann das Virus innerhalb weniger Wochen die Welt erobern. Das ist mit Sars-Cov-2 passiert.
  • Einige der Viren treten zunächst durch die Haltung von Nutztieren, insbesondere von Schweinen und Hühnern, in Erscheinung. Sie stecken die Menschen an, die mit ihnen in Kontakt kommen, zum Beispiel Züchter, Tierkörperverwerter oder Käufer von lebenden Tieren.

Die entscheidenden Faktoren. Der IPBES-Bericht weist darauf hin, dass Faktoren, die die Entstehung von neuen Krankheiten begünstigen, mit Lebensstilen, kulturellen Praktiken und menschlichen Aktivitäten verbunden sind.

  • Durch die Entwaldung werden zum Beispiel natürliche Barrieren beseitigt, die verhindern, dass Krankheitserreger mit Menschen oder Nutztieren in Kontakt kommen. Wenn etwa Wege in Wälder geschlagen werden, fördert das Jagd, Goldwäscherei und das Eindringen des Menschen in Wildgebiete.
  • Die Entwicklung von intensiver Landwirtschaft und Viehzucht, insbesondere dort, wo sie an natürliche Lebensräume angrenzt, erhöht das Risiko einer Übetragung von Pathogenen. Jean-François Guégan vom französischen Institut für Entwicklungsforschung IRD und vom nationalen Institut für Agrarforschung INRA in Montpellier erklärt:

«Die Verstädterung in Entwicklungsländern führt zur Entstehung gigantischer Viehzuchtbetriebe in peri-urbanen Gebieten mit einer Nähe zu Naturräumen, in denen es sehr viele Mikroorganismen gibt. Dies erhöht das Risiko neu auftretender Krankheiten.»

  • Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Wildtierhandel. Dieser hat sich seit 2005 verfünffacht und dient unter anderem dem menschlichen Konsum. Wildtiere werden aber auch als Haustiere oder für ihre Pelze benutzt. Der IPBES-Bericht weist darauf hin, dass der Markt für legalen Wildtierhandel ein Volumen von rund 98 Milliarden Franken pro Jahr hat. Dazu kommen noch 6,4 bis 21 Milliarden Franken illegaler Handel. Die damit verbundene Bewegung von Wildtieren ist der eigentliche Ursprung aller neu auftretenden Infektionskrankheiten bei Mensch und Tier. In die Vereinigten Staaten, die jedes Jahr 10 bis 20 Millionen lebende Wildtiere importieren, wurden durch diesen Handel Affenpocken sowie die «Cowdriose», eine Krankheit, die durch eine Zecke afrikanischen Ursprungs auf Wiederkäuer übertragen wird, eingeschleppt.
  • Die Wildtierzucht spielt eine wichtige Rolle in der chinesischen Wirtschaft: 70 Milliarden Schweizer Franken und 16 Millionen Arbeitsplätze hängen daran. Dadurch werden die Kontakte zwischen Mensch und Wildtieren vervielfacht. Jean-François Guégan sagt:

«In Südostasien gibt es eine sehr starke Tradition, dass man ein lebendes Tier sehen muss, bevor man es isst. Es ist kein Zufall, dass Covid-19 auf einem Markt in Wuhan auftauchte. So ein Szenario zeichnete der für den IPBES-Bericht verantwortliche Brite Peter Daszak bereits vor einigen Jahren.»

  • Dabei ist, nach Ansicht von Jean-François Guégan, der Verzehr des Wildtierfleisches aber nicht das Hauptproblem:

«Das grössere Risiko besteht für den Jäger im Wald, der gebissen werden könnte, oder der mit Blut, Speichel, Urin oder Kot eines Tieres, das einen Krankheitserreger trägt, in Kontakt kommen könnte.»

Die am stärksten gefährdeten Regionen. Sie befinden sich hauptsächlich in asiatischen Ländern wie China, Indien oder Indonesien, sowie im Kongobecken, in Brasilien und Mittelamerika. Benjamin Roche (IRD, Montpellier), einer der Autoren des IPBES-Berichts, führt aus:

«Das Risiko erhöht sich, wenn drei Kriterien erfüllt sind:

  • hohe biologische Vielfalt,
  • geschädigte Ökosysteme
  • und starker demographischer Druck.

Aus diesen Kriterien ergibt sich, dass der Amazonas nicht als Brutstätte neuer Krankheiten gilt, auch wenn die Entwaldung das Risiko erhöht.»

Demgegenüber liessen die IPBES-Experten die arktische Region, die mit dem Schmelzen des Permafrostes zu einem Reservoir für Krankheitserreger werden könnte, in ihrem Bericht unerwähnt. «Dies ist immer noch eine höchst spekulative Hypothese», so Roche.

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Verhütung von Pandemien. IPBES zeigt verschiedene Wege auf, um die Ausbreitung neu auftretender Krankheiten zu begrenzen.

  • Die Organisation erinnert daran, dass Präventionsstrategien wesentlich geringere Kosten verursachen als Pandemien, und zitiert insbesondere eine von Peter Daszak im Juli letzten Jahres mitverfasste Publikation, in der die Kosten für die Durchführung von Präventivmassnahmen auf 20 bis 28 Milliarden Franken pro Jahr geschätzt werden. Zum Vergleich: die Schäden im Zusammenhang mit Covid-19 werden vorläufig auf 7400 bis 14400 Milliarden Franken geschätzt.
  • Die IPBES-Experten haben aber keine lokalen Präventionsstrategien, insbesondere in Hochrisikogebieten, untersucht. Sie betonen jedoch, es sei notwendig, Strategien zur Veränderung der Landnutzung zu überarbeiten, um das Pandemierisiko zu integrieren. Ausserdem sei es notwendig, eine wirtschaftliche Entwicklung zu betreiben, die die Erhaltung der natürlichen Lebensräume stärker respektiere, und den Handel, insbesondere den illegalen Handel mit Wildtieren, strenger zu kontrollieren. «Natürlich müssen die lokalen Gegebenheiten berücksichtigt werden», betonen Benjamin Roche sowie alle anderen von uns befragten Experten.
  • Der Bericht fordert auch die Schaffung eines zwischenstaatlichen Rates, ähnlich dem Weltklimarat IPCC und dem Weltbiodiversitätsrats IPBES, der sich der Prävention von Pandemien widmet. Ausserdem fordert der Bericht eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen internationalen Organisationen wie der FAO (Landwirtschaft und Ernährung), der WHO (Gesundheit), dem OIE (Tiergesundheit) und den internationalen Übereinkommen über den Handel mit wildlebenden Tieren und Pflanzen (CITES) oder dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD).

Der Weg zu einem zwischenstaatlichen Rat zur Pandemieprävention. Ein solcher Rat wäre zweifellos ein Mittel, um wissenschaftliche Ergebnisse zu bewerten und die öffentliche Politik zu informieren, analog zur Klimaarbeit des IPCC. Aber für viele Experten liegt das Problem nicht in der Analyse des Wissens, sondern in der Unwissenheit, in die wir, aufgrund mangelnder Investitionen in die Erforschung der Bestimmungsfaktoren neu auftretender Krankheiten, versunken sind. Jean-François Guégan sagt:

«Es gibt zu viele Virologen oder Bakteriologen, die in ihren Labors eingesperrt sind, abgeschnitten von der Realität einer zusammenbrechenden Welt. Was die Grippeepidemie von 1918 so tödlich machte, war nicht die molekulare Virulenz des Virus, sondern die Tatsache, dass nach dem Waffenstillstand die Soldaten fast überall auf dem Planeten nach Hause zurückkehrten – und dabei die Grippe mitbrachten!

Wir müssen uns an die Worte von Charles Nicolle (französischer Arzt und Nobelpreisträger, Anm. d. Red.) erinnern, der sagte, dass sich Infektionskrankheiten nicht aus einer Notwendigkeit heraus verbreiten, sondern durch die Umstände. Und wir müssen massiv in die Forschung und Überwachung vor Ort investieren und gleichzeitig den Austausch zwischen den wissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen, die an der Prävention von Pandemien beteiligt sind, ermöglichen.»

Früherkennung neu auftretender Krankheiten. Wie kann man neue Krankheiten rechtzeitig erkennen, bevor sie ausser Kontrolle geraten? Diese Frage versucht ein zweiter Bericht zu beantworten, der ebenfalls am 29. Oktober – unabhängig vom IPBES-Bericht – veröffentlicht wurde. Mitverfasserin dieses Weissbuchs ist Marisa Peyre, Zoonosenspezialistin am Internationalen Zentrum für landwirtschaftliche Forschung für Entwicklung (CIRAD, Montpellier). Sie arbeitet im Bereich Prävention, insbesondere in Simbabwe:

«Prävention ist möglich, wenn man in der Lage ist, die Warnzeichen vor Ort zu erkennen. Dies bedeutet, dass die Überwachungsinstrumente gemeinsam mit den lokalen Gemeinschaften, der Bevölkerung, den Hirten, Ärzten, Tierärzten und Umweltbeauftragten entsprechend ihrer Bedürfnisse, Zwänge und Kenntnisse entwickelt werden müssen. So kann ein Mobiltelefon benutzt werden, um Beobachtungen zu melden, zum Beispiel unerklärliche Pathologien oder unerklärliche Todesfälle von Menschen durch gezüchtete oder wilde Tiere; eine Zunahme des Verkaufs von Antibiotika, eine plötzliche Zunahme oder Abnahme des Tierflusses in einem Schlachthof und so weiter.»

Ein System, das in beide Richtungen funktioniert: Lokale Akteure bekommen Informationen darüber, was anderswo geschieht. Sie erhalten Ratschläge, wie sie ihre Aktivitäten verbessern können. «Den lokalen Akteuren muss aber auch die Möglichkeit gegeben werden, selber etwas zu unternehmen, ohne auf Massnahmen der Gesundheits- oder Veterinärbehörden zu warten, denn die brauchen Zeit», sagt Peyre.

Ein solches System gibt es für die Viehzucht bereits in Indonesien. An ihm sind nationale, lokale und kommunale Behörden beteiligt. «Die Einrichtung dieses Systems hat weniger als 3 Millionen Franken über einen Zeitraum von 5 Jahren gekostet», so Peyre. «Derzeit belaufen sich die jährlichen Kosten auf knapp 90 000 Franken.» Denn natürlich ist Prävention nur dann sinnvoll, wenn sie nachhaltig ist.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Unsere Autorin Cornelia Eisenach hat ihn aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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