Die Geschichte beginnt mit einem Knall. Einem extrem mächtigen Knall. Hätte er in der Schweiz stattgefunden, dann wäre er auch in Island oder Ägypten noch hörbar gewesen. Aber es knallte am anderen Ende der Welt: Im Sommer 1815 explodierte auf einer Insel in Indonesien der Tambora, ein Vulkan, der tonnenweise Asche in die Atmosphäre schleuderte. In der Schweiz merkte man davon nichts. Ausser dass es im Herbst sagenhaft schöne Sonnenuntergänge gab. Dann kam der Winter. Und der Winter blieb.
Im Frühling 1816 schneite es regelmässig bis ins Flachland, noch im Juni fiel mehrfach Schnee, es regnete viel und die Ernten waren so schlecht, dass die Menschen Gras und Rinde assen, um zu überleben. Nicht alle schafften es. Auch viele Pferde überlebten den Sommer nicht und dieser Mangel an Pferden könnte ein Grund gewesen sein, weshalb in Süddeutschland ein gewisser Karl von Drais zu tüfteln begann. An einem Gefährt, das das Pferd ersetzen sollte.
Bald erfand Drais das Laufrad, ein Ding das etwa so aussah, wie die Gefährte, mit denen heute kleine Kinder herumflitzen. Dann passierte, was bei grossen Erfindungen häufig geschieht – überhaupt nichts. Ein paar Adelige fuhren mit Drais’ Maschinen durch ihre Parks, ansonsten brauchte sie niemand. 50 Jahre lang kam das Velo nicht vom Fleck. Bis 1864. Dann montierte der Pariser Schmied Pierre Michaux zwei Kurbeln an die Vorderradnabe und macht das Laufrad damit zum Fahrrad. «Knochenschüttler» nannten die Leute dieses Gefährt. Denn noch gab es keine Pneus und das Rad bestand aus Holz und Metall.
Die erste Euphorie
Was tun? Man baute das Vorderrad einfach grösser. Viel grösser. Denn ein grosses Rad gleicht Unebenheiten und Schlaglöcher besser aus. Ausserdem war die Übersetzung angenehmer zum Fahren, man musste weniger strampeln. Aber auch das Hochrad hatte seine Tücken. Es brauchte viel Kraft, Mut und ausserdem Geld um sich auf einer der teuren und gefährlichen Maschinen zu behaupten. Das konnten eigentlich nur junge Aristokraten. «Macho-Maschine» nennen es darum manche Historiker.
Der nächste Entwicklungsschritt war das Niederrad. Mit einer Kette, mit Luftgummireifen, mit zwei gleich grossen Rädern und mit dem Rahmen, wie wir ihn heute kennen. Und das Niederrad löste eine riesige Euphorie aus: Um die Jahrhundertwende gab es Velo-Mode und Velo-Plakate, Velo-Zubehör und Velo-Zeitungen. Und diese kamen auf eine Idee: Wenn man ein langes Rennen veranstaltete, könnte man täglich darüber berichten – und täglich viele Zeitungen verkaufen. So startete 1903 die Zeitschrift «L’Auto», ehemals «L’Auto-Vélo», die Tour de France. «L’Auto» wurde auf gelbes Papier gedruckt, der Führende trug deshalb das «Maillot Jaune». In Italien lancierte die auf rosarotem Papier gedruckte «Gazzetta dello Sport» 1909 den Giro d’Italia – und der Leader trug die «Maglia Rosa».
Das Velo verändert die Gesellschaft
Und die Begeisterung fürs Velo war gigantisch. «Man ist frei, man ist stark» schrieb der Schriftsteller Maurice Leblanc, «man möchte ein Unrecht finden, um es zu berichtigen, möchte ein Monster finden, um es zu bekämpfen!» Auch Mark Twain lernte Fahrradfahren – nachdem er damit x Mal auf die Nase gefallen war. Trotzdem empfahl er seinen Lesern «Kauft Euch ein Fahrrad. Ihr werdet es nicht bereuen – falls ihr es überlebt.» Sogar Albert Einstein sauste auf dem Velo durch die Berner Gassen und sagte später über die Relativitätstheorie: «Das ist mir beim Fahrradfahren eingefallen.»
Das grösste Kompliment erhielt das Velo aber von einer Frau. «Das Fahrrad hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen, als alle Bemühungen der Frauenbewegung zusammen», sagte Rosa Mayreder, die Alice Schwarzer des 19. Jahrhunderts. Wie kam’s zu diesem Lob? Nun, die Frauen hatten dank dem Velo endlich einen Grund, das Korsett wegzuwerfen. Sie bekamen eine gute Entschuldigung, um Hosen zu tragen. Und sie konnten nun endlich den alten Tanten entkommen, die ständig darauf aufgepasst hatten, dass junge Frauen auf keinen Fall etwas Interessantes erlebten.
Das Velo wird ausgebremst
In die Schweiz kam das Velo über Genf. Ausgerechnet in der Stadt, die heute für den Auto-Salon bekannt ist, stand 1904 ein Viertel aller Schweizer Velos. Und in Genf wurde auch der erste Schweizer Velo-Verein gegründet: der Touring-Club de Suisse. Natürlich, der TCS gehört heute zur Auto-Lobby. Aber das ist nicht ungewöhnlich, denn vieles, was beim Auto endete, hat beim Velo angefangen. Die Brüder Michelin produzierten Veloreifen, bevor sie aufs Auto setzten und Peugeot und Opel waren Velo-Produzenten, bevor sie Autohersteller wurden. Viele Velo-Rennfahrer wechselten nach dem Ersten Weltkrieg aufs Auto. Und auch die reiche Kundschaft der Velo-Hersteller entdeckte den Komfort der motorisierten Kutschen.
Velos fertigte man nun nicht mehr in Handarbeit, sondern in grossen Fabriken. Sie wurden günstiger und das Stahlross der Reichen wandelte sich zum Drahtesel der Armen. Die fuhren jeden Morgen zu hunderten damit in die Fabriken. Die 1920er-Jahre waren eine goldene Zeit für Radfahrer in der Schweiz. Zum Beispiel setzten sie sich gemeinsam mit den Automobilisten für die Asphaltierung der Strassen ein. Aber die Allianz zerbrach in den 1930ern. Denn die Autos wurden zahlreicher und vor allem immer schneller und schwerer und so kam es immer häufiger zu Streit um den Platz auf der Strasse. Reiter, Fuhrwerke und Leiterwagen verschwanden nun ganz aus dem Stadtbild und auch die Radfahrer wurden an den Rand gedrängt. Zwar gab es Bemühungen zum Bau von Radwegen, aber die waren damals bei vielen Velofahrern nicht besonders beliebt. Sie empfanden sie nicht als Schutzzonen, sondern als Reservate, in welche sie nun verbannt werden sollten. Ausserdem wurden in der Schweiz bis 1938 gerade mal 150 Kilometer Velowege gebaut. Das war kaum mehr als ein Tropfen auf den heissen Asphalt.
Und nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die Probleme der Velofahrer noch sehr viel grösser werden.
Die Berg- und Talfahrten des Velos
Im zweiten Teil der Serie erfährst du, wie holprig es mit dem Velo nach dem zweiten Weltkrieg weiterging.