Das musst du wissen

  • Tanger ist die am besten an Europa angeschlossene Stadt des afrikanischen Kontinents.
  • 57 Stunden braucht die Fähre von Tanger nach Genua.
  • Dabei stösst die Fähre nur einen Viertel der Emissionen aus, welche eine Flugreise produzieren würde.

Rund 100 Menschen fielen am 13. Juli um Punkt 14 Uhr auf einmal um. Mit diesem sogenannten «Die-in» haben Aktivistinnen und Aktivisten zum Flugstreik aufgerufen: Wer mitmacht, verzichtet im Jahr 2020 auf Flugreisen. Nach der Aktion am Flughafen breitete sich durch Gesang und Sprechchöre euphorische Stimmung aus, fast ein bisschen so als ob das Ziel des Streiks schon erreicht wäre.

Davon sind wir aber noch lange entfernt: Dadurch, dass Kerosin von Steuern komplett befreit ist, wird die Luftfahrt indirekt subventioniert. Dies führt zu einer starken Wettbewerbsverzerrung. Das Flugstreikkollektiv will diese Verzerrung aufheben – und fordert ein gesellschaftliches Umdenken. Alternativen zum Fliegen sind uns allen schon bekannt: Interrail und Roadtrips haben sich als feste Bestandteile von Europareisen etabliert. Wie sieht das Ganze aber aus, sobald man die europäischen Grenzen überschreiten möchte? Ein Selbstversuch.

Auf zu neuen Ufern – zum Beispiel Afrika

Tanger, auch bekannt als das «Tor nach Afrika», ist die am besten an Europa angeschlossene Stadt des afrikanischen Kontinentes. Von dort aus lässt es sich bequem ohne Kerosinausstoss nach Spanien, Frankreich und Italien hinreisen – und somit auch in die Schweiz. Das gilt natürlich auch für die umgekehrte Richtung: Tanger ist ohne Flugzeug gut zu erreichen.

Am Hafen von Tanger wartet die riesige Fähre namens Grande Navi Veloci: In 57 Stunden bringt dieses Ungetüm die Reisenden nach Genua. Wäre da nicht die ewig lange Autokolonne, die sich im Schritttempo ins Schiffsinnere bewegt, sähe die Fähre einem Kreuzfahrtschiff zum Verwechseln ähnlich. Die Anzahl Passagiere aber, die ohne Auto mitfahren, lassen sich an zwei Händen abzählen.

Im Schiffsinneren angelangt, überrascht auf den ersten Blick die unerwartet glamouröse Atmosphäre. Eine geschwungene Treppe führt in das von rotem Teppich überzogene Foyer mit der Rezeption. Auf dem Schiffsplan stehen Attraktionen wie Swimmingpool, Fitness- und Beautycenter oder Piano-Bar angeschrieben. Doch es stellt sich bald heraus, dass die Attraktionen eigentlich Zeugen einer anderen Zeit sind. Der Swimmingpool ist leer und von durch ein Netz abgesperrt, das Fitness- und Beautycenter geschlossen und die Piano-Bar bevölkert von Familien, die dort aus ihren Tupperwares essen. Das ehemalige Hallenbad ist mit teetrinkenden und rauchenden Männern gefüllt, die laut Musik durch kleine mitgebrachte Lautsprecher hören. Im Café nebenan sitzen Frauen und legen die Füsse hoch, während im Hintergrund italienische Nachrichten im Fernseher laufen. Im obersten Stock haben jene Passagiere, die sich keine Kabine leisten können oder wollen, ihre Decken als Schlaflager auf dem Boden ausgebreitet – oder sie schlafen im verlassenen Kinosaal. Auf der Fähre ist die Kundschaft  eine seltsame Mischung aus einzelnen Marokkanerinnen und Marokkanern, die das Land ganz zu verlassen scheinen, bereits ausgewanderten marokkanischen Familien in den Ferien und ein paar europäischen Langzeittouris. Das Gesamtbild ist widersprüchlich und schwierig zu erschliessen. Dasselbe gilt für die ökologische Bilanz der Fährenfahrt.

Zwei Personen auf einer Fähre während dem SonnenuntergangNuria Tinnermann

Sonnenuntergang auf dem Mittelmeer.

Umweltfreundlicher trotz bedrohlicher Auspuffwolke

Containerschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder Öltanker gelten als extrem umweltschädlich, da sie mit Schweröl betrieben werden – einer der giftigsten Treibstoffe überhaupt. Wie sieht aber die Bilanz für Fähren aus? Aus dem Schiffskamin entweicht dunkelbrauner Rauch, der wie eine Spur des Schiffes bis zum Horizont reicht. Die meisten Lebensmittel und Getränke werden im Wegwerfbesteck serviert. Abfalleimer, die eigentlich zum Trennen der Abfälle gedacht wären, wirken wie reine Dekoration, denn trennen tut hier niemand. Und das einzige vegetarische Menü besteht aus gedünsteten Karotten und Bohnen. Ökologisch fühlt sich definitiv anders an.

Trotzdem ist das Reisen mit der Fähre umweltschonender als das Fliegen. Die Strecke von Tanger nach Genua hätte mit einer Flugreise myclimate.org zufolge ungefähr 317 Kilogramm CO₂ ausgestossen. Die Werte für die Emissionen einer Fähre sind schwieriger ausfindig zu machen: Die Berechnung von Fährenemissionen gilt als kompliziert, Auslastung und Grösse des Schiffes spielen eine wichtige Rolle: Je grösser die Transportmenge, desto weniger fallen die Emissionen ins Gewicht. Auf vielen Plattformen fehlt die Möglichkeit die Passagierauslastung oder den Fährentyp in die Berechnung miteinzubeziehen, wodurch das Resultat ungenau wird. Auf Nachfrage liefert aber myclimate eine detaillierte Ausführung. Die Fähre stösst während der rund 2000 Kilometer langen Reise von Tanger nach Genua ungefähr 80 Kilogramm CO₂ aus. Das heisst: die Emissionen der Fährenreise betragen nur einen Viertel der Flugreise. 237 Kilogramm weniger CO₂ landen dadurch in der Atmosphäre – ist ungefähr die Menge, die durch den Konsum von 15 Kilogramm Rindfleisch oder durch eine Autofahrt von Zürich nach Barcelona emittiert wird. Der Effekt ist gross, aber könnte noch um einiges grösser sein, wenn die Seefahrtindustrie sich den Forderungen von Umweltorganisationen – zum Beispiel dem Verzicht auf Schweröl – etwas annähern würde.

Erschwingliche Alternative

Vor allem für längere Aufenthalte auf See kann die Fähre also guten Gewissens ins Mobilitätsrepertoire aufgenommen werden. Zugreisen sind oft teurer und dauern länger als Flugreisen – das ist für viele bereits ein Argument gegen den Schienenweg. Fährenreisen können zumindest beim Preis punkten. Gerade bei Studierenden in den Semesterferien spielt Zeit meistens eine kleinere Rolle als der Preisf. Die Fähre entpuppt sich somit als ideales Fortbewegungsmittel, denn mit ein wenig Vorbereitung lässt sich das Mittelmeer für rund 100 Euro überqueren. Während der Überfahrt befinden sich die Reisenden in einem seltsamen Zwischenstadium: Der Ursprungsort ist verlassen, der Zielort noch meilenweit entfernt und dabei besteht, ausser man möchte sich den überteuerte Internetzugang des Schiffes zutun, keinerlei Kontakt zur Aussenwelt. Wie in einer Blase, ohne jedes Zeitgefühl gleitet die Fähre übers Mittelmeer, in jede Himmelsrichtung ist bis zum Horizont nur dunkelblaues Wasser zu sehen. 57 Stunden auf der Fähre sind definitiv entspannend.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich in der Zürcher Studierendenzeitung ZS publiziert. higgs und die ZS pflegen den Austausch von Artikeln in beide Richtungen. Weitere ähnliche Artikel sind hier zu finden.

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