Die Ernte von Brokkoli, Blumenkohl oder Romanesco ist teuer. Denn dafür braucht es viel Handarbeit und Erfahrungswissen. Dies macht speziell den Ernteprozess von Kohlgewächsen kostenintensiv und aufwendig, was sich auf den Preis des Gemüses auswirkt. Um das Gemüse zu ernten, befreien die Erntehelferinnen und Erntehelfer auf dem Feld den Kopf der Pflanze vorsichtig von den umliegenden Blättern und schneiden diesen mit einem Messer ab. Einzelne unreife Exemplare werden zurückgelassen und zu einem späteren Zeitpunkt geerntet. In diesem Prozess werden aber keine Daten zum Feld oder den Pflanzen an sich gesammelt. Das angewandte Forschungsprojekt DigiLand (Digitale Landwirtschaft in der Bodenseeregion) der FHS St.Gallen und der NTB Buchs setzt hier an und bietet den Landwirtinnen und Landwirten eine neue Entscheidungsgrundlage in Form eines Prototyps.

Laufende Auswertung der Ernte

Während der Ernte erfasst der Prototyp mehrere Parameter zu jeder Pflanze. Im Anschluss erfolgt eine Ertragskartierung des Feldes. Die Landwirte erhalten bereits während der Ernte eine Auswertung und können anhand dieser entscheiden, ob sich ein weiterer Erntedurchgang finanziell lohnt. Die Ergebnisse der Auswertung unterstützen den verarbeitenden Betrieb zusätzlich in der Kapazitätsplanung.

FHS St.Gallen

Beim Prototyp handelt es sich um eine Eigenentwicklung des Institutes EMS der NTB Buchs. Das System besteht aus einer Wiegeeinrichtung, die mit einem smarten mechatronischen Messer verbunden ist. Während des Ernteprozesses wird damit der Zustand der Pflanze sowie das Gewicht des geernteten Kopfes erfasst. Ein integriertes GPS-System ordnet die Werte einer Position auf dem Feld zu. Für jede Pflanze wird ein Datensatz generiert, der in der Datenbank einer Cloud gespeichert wird. Eine Web-Applikation erstellt eine Auswertung auf der Basis der vorliegenden Daten. Dies erlaubt den Landwirten, die aktuellen Ergebnisse von einem beliebigen Endgerät aufzurufen.

Lücke zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit

Solche und weitere innovative Technologien wie verteilte Sensor-Netzwerke, selbstfahrende Traktoren oder Drohnenaufnahmen klingen für die Land- und Ernährungswirtschaft vielversprechend. Allerdings entsprechen sie in der Bodenseeregion – und generell in der Schweiz – nur ansatzweise der Praxis. Die Gründe sind vielfältig:

  • Viele landwirtschaftliche Betriebe nutzen lokale, oftmals nicht-integrierte Technologien und Informationssysteme zur Planung und Organisation ihrer Abläufe.
  • Die meisten technologischen Anwendungen konzentrieren sich nicht auf die gesamte Wertschöpfungskette der landwirtschaftlichen Produkte, sondern lediglich auf einen Teilbereich.
  • Die Informationsflüsse in der landwirtschaftlichen Kette sind – verglichen mit anderen Industrien – stark fragmentiert und können selten integriert und automatisiert abgebildet werden.
  • Landwirtschaftlichen Betrieben mangelt es an organisatorischen Fähigkeiten, das Potential der zahlreichen Technologien einzuschätzen, relevante Technologien auszuwählen und diese in die betrieblichen Abläufe zu integrieren.
  • Für KMU stehen momentan weder integrierte, verteilte und leicht einzusetzende Softwarelösungen, noch standardisierte Prozess- und Organisationsmodelle zur schnellen Selektion und Implementierung neuer Technologien zur Verfügung.

Ziel des angewandten Forschungsprojekts DigiLand ist es deshalb, diese Lücke zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu schliessen. Dies geschieht insbesondere durch die Entwicklung pragmatischer Handlungsempfehlungen, Entscheidungshilfen, Ordnungsraster und Referenzmodelle, aber auch durch die Entwicklung von Prototypen zur Verbesserung der Abläufe. Da die zahlreich bestehenden Technologien stark spezialisiert sind, ist eine vertiefte Analyse und Entwicklung solider Handlungsempfehlungen und Referenzmodelle nur möglich, wenn der Anwendungsbereich sehr spezifisch definiert und untersucht wird. Aus diesem Grund entschied sich das Projektteam für die detaillierte Analyse der Wertschöpfungskette der drei Kohlgewächse Brokkoli, Blumenkohl und Romanesco, die insbesondere im Bereich Tiefkühlproduktion in der Bodenseeregion ausreichend relevant sind. In einem weiteren Schritt wurden die Analysen auf den Bereich Most- und Tafeläpfel übertragen.

«Precision Farming» auch für den Gemüseanbau

Die Ergebnisse der Prozess- und Technologieanalysen sämtlicher Abläufe, Technologien, Entscheidungslogiken entlang der Wertschöpfungsketten wurden durchgehend als BPMN 2.0 Prozessmodelle modelliert und zu durchgängigen Prozessketten verbunden. Alle Prozesse wurden hierarchisch dargestellt, an deren oberster Stelle die Prozesslandkarte der gesamten Wertschöpfung erscheint. Die verschiedenen Prozesse wurden mit den passenden Steuerungsgrössen (Kennzahlen, Wirkungsbeziehungen) sowie durch mögliche Digitalisierungspotentiale angereichert und können durch integrierte Management Cockpits gesteuert werden.

Aus den Analysen ergaben sich bereits nach den ersten Projektmonaten verschiedene Potentiale für neue Technologien und eine Verknüpfung bestehender Basistechnologien zu spezifischen Anwendungen. Dies führte zu eingangs beschriebener prototypischer Entwicklung einer für Kohlgewächse relevanten Schlüsseltechnologie. Dank der Organisationsmodelle und Prototypen wird Precision Farming nun auch für den Gemüseanbau attraktiv.

Dieser Beitrag stammt von der Fachhochschule St. Gallen. DigiLand ist ein internationales, hochschulübergreifendes Forschungsprojekt (FHS St.Gallen, NTB Buchs und DHBW Ravensburg) mit dem Ziel, einen Wettbewerbsvorsprung der Landwirtschaft in der Bodenseeregion zu schaffen. Dabei sollen entlang der ernährungswirtschaftlichen Wertschöpfungskette landwirtschaftlichen und verarbeitenden Betrieben, lokalen Händlern und kleinen regionalen Technologie- sowie Beratungsfirmen die effektive Gestaltung und Durchführung der Digitalisierung ermöglicht werden.
Kontakt zu den Projektverantwortlichen: Oliver Christ, Dozent für Qualitätsmanagement & Angewandte Betriebswirtschaft an der FHS St.Gallen.
Katharina Giger, wissenschaftliche Mitatrbeiterin am Institut für Qualitätsmanagement & Angewandte Betriebswirtschaft an der FHS St.Gallen.
Jürgen Prenzler, Institutsleiter Institut für Entwicklung Mechatronischer Systeme EMS der NTB Buchs.

Fachhochschule St. Gallen

Hier präsentiert die Fachhochschule St. Gallen Geschichten aus der Forschung.
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