Nur in einer direkten Demokratie kann das Volk die Politik unmittelbar mitgestalten, heisst es. In der Tat ermöglichen es Abstimmungen den Bürgerinnen und Bürgern, sich direkt zu einzelnen Sachfragen zu äussern. Allerdings ist längst nicht immer klar, welche Beweggründe hinter den einzelnen Entscheiden standen. Waren es tatsächlich die individuellen Haltungen und Präferenzen, welche den Ausschlag geben oder versuchen die Abstimmenden vor allem ein Zeichen zu setzen, Dampf abzulassen oder der Regierung einen Denkzettel zu verpassen?
Darüber wird im Nachgang zu Abstimmungen in der Schweiz, aber auch anderswo, etwa beim Brexit-Referendum in Grossbritannien, kontrovers diskutiert. Ab und an gipfelt diese Diskussion sogar in der Forderung nach der Wiederholung einer Abstimmung, weil aus dem ersten Urnengang offenbar nicht hervorging, was das Stimmvolk mit seinem Votum meinte.
Tatsächlich bedeutet ein Ja bei Abstimmungen nicht immer ein Ja und ein Nein auch nicht stets ein Nein. Denn aus der politischen Verhaltensforschung ist hinlänglich bekannt, dass Wählerinnen und Wähler in bestimmten Situationen strategisch entscheiden. Strategisch meint in diesem Zusammenhang, dass man sich für eine andere als die eigentlich bevorzugte Option entscheidet, um damit einen günstigeren Abstimmungs- oder Wahlausgang zu erzielen.
Wieso Initiativen bei der Umsetzung verwässert werden
Strategisches Wählen ist eine Entscheidung, die den erwarteten Nutzen gegenüber einer «ehrlichen» Wahl steigert. Davon gibt es verschiedene Spielarten. Eine davon ist das kompensatorische Wählen. Kompensatorisch Wählende antizipieren bereits vor der Wahl den Prozess der Regierungsbildung und treffen darauf aufbauend ihren Entscheid. Kurz, im kompensatorischen Wählen fliessen die subjektiven Erwartungen zur Umsetzungsfähigkeit politischer Positionen in das Kalkül der Wählenden mit ein.
Kompensatorisches Wählen wurde im Kontext von Wahlen schon ausgiebig erforscht. Für Sachabstimmungen liegen bislang jedoch keine Untersuchungen vor. Doch gerade bei Sachabstimmungen — und im Speziellen bei Abstimmungen über Volksinitiativen — ist ein solches Entscheidungsverhalten zu erwarten.
Denn in der Regel kümmern sich der Bundesrat und das Parlament um die Umsetzung einer angenommenen Initiative. Es entscheiden also Organe, die die Vorlage zuvor in aller Regel bekämpft haben. Ihre Bereitschaft, die ungeliebte Initiative wortwörtlich umzusetzen, dürfte begrenzt sein, was bei der Umsetzung zu einer Verwässerung der Vorlage führen könnte.
Die politisch interessierten Stimmberechtigten dürften sich dessen bewusst sein. Einige von ihnen könnten den erwarteten politischen Verwässerungsprozess im Voraus zu kompensieren versuchen. Mit anderen Worten: Sie könnten dazu neigen, einer Initiative, die ihnen eigentlich zu weit geht, trotzdem zuzustimmen, weil sie glauben, dass die anschliessende Umsetzung weniger radikal ausfällt als in der Initiative angekündigt. Sie spekulieren darauf, dass die Umsetzung ihrer sachpolitischen Idealposition am Ende sehr nahe kommt.
Je schwammiger die Initiative, desto mehr strategische Stimmen
Wir haben zu diesem Zweck die Verbreitung kompensatorischen Stimmens zwischen 1993 und 2015 untersucht. Unsere Untersuchung zeigt, dass im Durchschnitt etwas mehr als sechs Prozent der gut Informierten kompensatorisch abstimmen. Dieser Anteilswert variiert indessen stark zwischen den einzelnen Initiativen.
Der geringste Wert (2.2%) wurde bei der Initiative «Ja zu Europa» (4.3.2001), der höchste (14.8%) beim Volksbegehren «gegen illegale Einwanderung» (1.12.1996) erzielt. Diese zwei Werte zeigen im Übrigen bereits ein gewisses Muster auf: Die Volksinitiative «Ja zu Europa» liess wenig Handlungsspielraum bei der Umsetzung offen, zumal der Bundesrat selbst erst drei Jahre zuvor ein EU-Beitrittsgesuch in Brüssel deponiert hatte. Es gab demnach keinen Grund, im Falle einer Annahme an einer schnellen und wortgetreuen Umsetzung zu zweifeln. Demzufolge gab es auch keine Anreize, strategisch zu stimmen.
Die Initiative «gegen illegale Einwanderung» hingegen beliess deutlich mehr Manövrierraum bei der Umsetzung und fand weder beim Bundesrat noch im Parlament eine mehrheitliche Unterstützung. Hier war im Falle einer Annahme schon viel eher mit einer Verwässerung zu rechnen, womit sich auch die Motivation für kompensatorischen Stimmens erhöhte.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass kompensatorisches Abstimmen zumindest für einen Teil der gut Informierten eine Option darstellt. Ob die kompensatorisch Stimmenden gar das Resultat einer Abstimmung zu kippen vermochten, ist indessen schwierig zu beurteilen. Denn natürlich ist umgekehrt auch möglich, dass Nein-Stimmende nicht ihren Präferenzen gemäss stimmten.
Mit anderen Worten: Der «wahre Volkswille» — sofern es so etwas wie einen wahren Volkswillen im Sinne einer Verteilung von «ehrlichen» Präferenzen überhaupt gibt — bleibt verborgen. Aber eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Das Ergebnis einer Volksabstimmung ist wohl nur in den seltensten Fällen eine exakte Wiedergabe der vorlagenbezogenen Sachpräferenzen des Stimmvolkes.
Daten und Methoden
Die Datengrundlage bilden die VOX-Erhebungen. Diese stützen sich auf Befragungen von 1’000 — 1’500 Stimmberechtigten im Nachgang zu eidgenössischen Urnengängen. Wir haben uns dabei ausschliesslich auf Stimmende beschränkt, die über ein gewisses Level an Informiertheit verfügen. Denn nur wer informiert ist, kann auch strategisch abstimmen. Insgesamt deckt unsere Untersuchung 63 Vorlagen ab, wobei die Daten zusammengenommen 17’570 Befragte enthalten.
Um das kompensatorische Verhalten zu messen, wurde zunächst rekonstruiert, wie jemand aufgrund seiner sachpolitischen Präferenzen hätte abstimmen sollen (sincere oder auch correct vote). Wir lehnen uns dabei an das Konzept des correct voting an: Dieses ist definiert als jene Wahlentscheidung, die eine Wählerin unter vollständiger Informiertheit trifft (Lau und Redlawsk 1997). Die sachpolitischen Präferenzen der Befragten wurden ihren Antworten auf die vorgelegten, vorlagenbezogenen Argumente entnommen. Diese inhaltlichen Positionen der Befragten zur vorgelegten Initiative wurden mit ihrem tatsächlichen Entscheid verglichen. Stimmten Befragte dabei einer Initiative zu, die sie aufgrund ihrer (von ihnen selbst geäusserten) inhaltlichen Positionen hätten ablehnen müssen, so wurden sie als kompensatorisch Stimmende klassifiziert.