Francesca Pellicciotti ist ungeduldig. Fast zwei Jahre nach ihrer letzten Expedition kann sie es kaum erwarten, ins Feld zurückzukehren. «Im Jahr 2020 mussten wir unsere Gletschermesskampagnen in Indien und Tibet wegen der Coronavirus-Pandemie absagen. Und dieses Jahr wird nicht besser», sagt die italienische Glaziologin, die seit 2017 an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) tätig ist.

Francesca Pellicciotti ist ausserordentliche Professorin an der Northumbria University (UK), ihr Spezialgebiet sind Hochgebirgsgletscher in Lateinamerika und Asien. «Wir kennen die alpinen Gletscher gut, aber wir wissen sehr wenig über die in anderen Regionen der Erde. Deshalb wollte ich die Gletscher der Anden und des Himalayas untersuchen.»

Die Schweiz sechs Meter unter Wasser

Fast alle Gletscher der Welt, unabhängig von Höhenlage und Breitengrad, werden dünner und verlieren immer schneller an Masse, so eine Ende April in Nature veröffentlichte internationale Studie, an der die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ) beteiligt war. Es ist die vollständigste und genaueste Analyse der 217 175 Gletscher auf unserem Planeten.

Zwischen 2000 und 2019 schmolzen weltweit durchschnittlich 267 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Das reicht, um die gesamte Schweiz sechs Meter unter Wasser zu setzen, so die ETHZ. Zu den am schnellsten schmelzenden Gletschern gehören jene in Alaska, Asien und den Alpen.

Nur in sehr wenigen Gebieten, zum Beispiel in Skandinavien, verlangsamte sich die Gletscherschmelze im beobachteten Zeitraum. Die Forschenden führen dies auf eine Wetteranomalie im Nordatlantik zurück, die lokal höhere Niederschläge und niedrigere Temperaturen verursachte.

Hunderte von Millionen Menschen gefährdet

«Besonders besorgniserregend ist die Situation im Himalaya», wird Romain Hugonnet, Hauptautor der Studie, in einer Mitteilung zitiert.
Während der Trockenzeit ist das Schmelzwasser für die grossen Flüsse wie den Ganges, Brahmaputra und Indus eine wichtige Quelle. «Wenn die Gletscher im Himalaya jedoch weiterhin mit zunehmender Geschwindigkeit schrumpfen, könnten bevölkerungsreiche Länder wie Indien und Bangladesch in den kommenden Jahrzehnten mit Wasser- und Nahrungsmittelknappheit konfrontiert werden», warnte Hugonnet.

Im Vergleich zu den Alpengletschern sind die Gletscher des Himalayas, des tibetischen Plateaus und des Karakorum-Gebirges viel grösser. Deshalb sind auch die Auswirkungen von grösserer Bedeutung, so Pellicciotti. «Das Verschwinden der Gletscher in der Schweiz würde zu Problemen für die Bergökosysteme oder die Wasserkraftproduktion führen. Aber wenn die Gletscher in Asien verschwinden würden, wären Hunderte von Millionen Menschen in Indien, China, Pakistan, Afghanistan und Nepal betroffen.»

In diesen Regionen, die von schlechter Regierungsführung und Konflikten um Wasser geprägt sind, «sind Gletscher Schlüsselelemente der Stabilität», betont sie.

Laut einer WSL-Studie, die im Mai in Nature Communications veröffentlicht wurde, wird bis zum Jahr 2100 etwa ein Fünftel des Eises in asiatischen Gebirgen schmelzen, selbst wenn sich das Klima nicht weiter erwärmt.

Die Karakorum-Anomalie

In einigen Regionen Asiens haben die Gletscher seit der vorindustriellen Ära etwa sechzig Prozent ihres Volumens verloren. Laut Pellicciotti ist das vergleichbar mit dem Rückgang in den Alpen. Aber es gibt Ausnahmen.

Zum Beispiel in der Karakorum-Region zwischen Kaschmir und China, wo einige Gletscher zwischen 2000 und 2010 stabil blieben oder sogar an Masse zunahmen. «Es ist eine offensichtliche Anomalie, die wir im Moment nicht erklären können, obwohl verschiedene Hypothesen formuliert wurden», sagt die ehemalige ETH-Mitarbeiterin.

Laut Pellicciotti müsste der Forschungshorizont erweitert werden: Gletscher sollte man nicht mehr als isolierte Gebilde, sondern als Teile eines grösseren hydrologischen Kontextes betrachten. Ein System, in dem beispielsweise auch die Rolle der umgebenden Vegetation im Wasserkreislauf berücksichtigt wird.

«Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz und verschiedene Modelle für Gletscher», so Pellicciotti. Nur so könne man die Komplexität der Gletscher entschlüsseln und vorhersagen, wie sie sich in Zukunft entwickeln werden.

Geschützt durch wenige Zentimeter Schnee

Die komplexe Entwicklung der Gletscher konnte Pellicciotti bei ihren Recherchen in Asien, Chile und Peru persönlich erleben. «Jede Region hat eine spezifische Dynamik», sagt sie.

In den Alpen kommt es im Winter zu einer Ansammlung von Schnee und Eis und im Sommer zur Schmelze. Im Himalaya hingegen fallen Akkumulation und Schmelzen in die gleiche Jahreszeit – die Monsunzeit.

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In den tropischen Andengebieten Perus ist der einzige Schutz für die Gletscher die wenigen Zentimeter Schnee, die während der Regenzeit fallen. «Sollte sich der Schnee aufgrund der steigenden Temperaturen in Regen verwandeln, würden diese Gletscher innerhalb eines Jahrzehnts verschwinden», sagt Pellicciotti.

Die Hydrologin untersucht derzeit eines der am wenigsten bekannten und von wissenschaftlichen Modellen bisher vernachlässigten Gletscherphänomene: den Schutt, der die Gletscher bedeckt.

Schwarze Gletscher

Wenn sich das Eis zurückzieht, werden die umliegenden Hänge instabil; erodierter Gesteinsschutt rutscht talwärts und sammelt sich an der Gletscheroberfläche an. Dazu kommt: Im Eis eingeschlossenes Material gelangt durch die Schmelze an die Oberfläche. Das Ergebnis ist ein Gletscher, der sich dunkel verfärbt. «Mit der globalen Erwärmung steuern wir auf einen Planeten mit schwarzen Gletschern zu», so Pellicciotti.

Nach der Sichtung von Tausenden von Satellitenbildern entdeckten Francesca Pellicciotti und Sam Herreid von der Northumbria University, dass mehr als 29 000 km² des hoch gelegenen Eises auf der ganzen Welt mit Trümmern bedeckt sind. «Früher dachte man, dass diese Trümmer wie eine ‹Decke› wirken und die Gletscher vor dem Abschmelzen schützen. Heute geht man jedoch davon aus, dass diese Gletscher gleich oder sogar schneller schrumpfen als jene ohne Trümmerdecke», erklärt Pellicciotti.

Auf der Oberfläche eines bedeckten Gletschers im Himalaya wurde eine Temperatur von vierzig Grad Celsius gemessen. «Ein mit Schutt bedeckter Gletscher kann viel mehr Wärmeenergie aufnehmen als ein weisser Gletscher», so Pellicciotti. Es sei jedoch nicht ganz klar, was mit der von der Schuttschicht absorbierten Energie geschehe und wie sie auf das darunter liegende Eis übertragen werde. «Wir wollen nun verstehen, was das Schmelzen und Ausdünnen dieser Gletscher verursacht.»

Dieser Text erschien zuerst bei swissinfo.
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