Anfang 2021, nach der Veröffentlichung des Buches «La familia grande», das den sexuellen Missbrauch eines Stiefvaters an seinem Stiefsohn enthüllte, stand der Inzest in Frankreich, aber auch in der Schweiz, im Mittelpunkt der Diskussionen. Nur: In der Schweiz ist eine solche Situation, auch wenn sie in der kollektiven Vorstellung einen Inzest darstellt, aus rechtlicher Sicht keiner.

Aimée Zermatten

Aimée Zermatten ist Doktorandin an der Universität Freiburg und Mitglied der Jungen Akademie Schweiz. In Ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Umgang der Strafjustiz mit Sexualstraftätern.

Denn in der Schweiz wird der Inzest als Vergehen gegen die «Familie» und nicht gegen die «sexuelle Integrität» qualifiziert (Artikel 213 Strafgesetzbuch). Genauer: Es wird der «Beischlaf mit Blutsverwandten in gerader Linie oder einem voll- oder halbbürtigen Geschwister» bestraft. Deshalb liegen die Verurteilungen für Inzest tief. Von 2010 bis 2020 wurden 66 Erwachsene für Inzest verurteilt; durchschnittlich also sechs Verurteilungen pro Jahr.

Geschlechtsverkehr wird zu eng gefasst

Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist somit auf den im Strafgesetzbuch genannten Begriff des «Beischlafs» beschränkt, der als Vereinigung der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane definiert ist. Diese Beschränkung bedeutet, dass andere sexuelle Handlungen – wie Berühren der Genitalien, Oralverkehr, Analverkehr – und sexuelle Beziehungen zwischen Personen desselben Geschlechts nicht als Inzest im Sinne des Gesetzes eingestuft werden können. In Wirklichkeit umfasst die Sexualdelinquenz jedoch eine grosse Bandbreite an gesetzesverstossenden Verhaltensweisen, die alle traumatisch für die Opfer sein können. Darüber hinaus wird im Rahmen der derzeit laufenden Revision des Sexualstrafrechts vorgeschlagen, die Vergewaltigung nicht mehr auf den «Beischlaf» zu beschränken und die Definition zu erweitern.

Das zweite Element des Inzest-Artikels im Strafgesetzbuch besagt, dass nur Personen, die in einer Blutsverwandtschaft stehen – also Verwandte in aufsteigender und absteigender Linie, Brüder und Schwestern mit mindestens einem gemeinsamen Elternteil –, Inzest begehen können. Auch hier gibt es ein Problem: Diese Einschränkung des Kreises der potenziellen Täter auf Mitglieder derselben biologischen Familie ist nicht konsequent. Der Begriff der Familie entspricht nämlich nicht dem des Zivilrechts, das zum Beispiel die Abstammung durch Adoption anerkennt.

Ungleiche Behandlung von Opfern

Diese strikte Begrenzung des Inzest-Artikels führt zu fragwürdigen Ungleichbehandlungen: Ein Adoptivbruder und eine Adoptivschwester, die einvernehmliche sexuelle Beziehungen unterhalten, würden sich beispielsweise nicht des Inzests schuldig machen. Doch sie würden wegen dieser Straftat strafrechtlich verfolgt, wenn sie mindestens einen gemeinsamen biologischen Elternteil hätten. Ebenso würde in einer Patchwork-Familie ein Vater, der seine leibliche Tochter und seine Stieftochter, also die Tochter seiner Frau, vergewaltigt, im ersten Fall wegen Vergewaltigung und Inzest bestraft werden, während er im zweiten Fall nur wegen Vergewaltigung bestraft werden würde. Es würde auch nicht als Inzest angesehen, wenn er seinen Sohn sexuell missbraucht hätte, denn auch hier gilt dies nur bei Vorliegen einer heterosexuellen Beziehung als Inzest.

In den beiden letztgenannten Fällen, in denen die biologische Verbindung fehlt oder kein «Beischlaf» vorliegt – Opfer und Täter gleichen Geschlechts, andere sexuelle Handlung –, handelt es sich um eine Straftat gegen die sexuelle Integrität – und nicht zusätzlich um einen Inzest. Da somit nicht mehrere Straftaten vorliegen – Straftat gegen die sexuelle Integrität in Verbindung mit Inzest –, kann das Gericht keine strengere Strafe verhängen.

Die Realität sieht anders aus

Diese Bestimmung entspricht meines Erachtens nicht mehr den Realitäten unserer heutigen Gesellschaft – denn soziale und familiäre Konstellationen haben sich verändert. Schlimmer noch, sie trägt zu einer Ungleichbehandlung bei und begünstigt eine rechtliche Realität – kein Inzest –, die sich von der des Opfers unterscheidet und allgemein als Inzest anerkannt wird. Denn für viele gilt eine sexuelle Beziehung und damit auch ein sexueller Missbrauch zwischen nahen Verwandten als Inzest.

Daher wäre es sinnvoll, den derzeitigen Zweck des Inzest-Artikels, die Wahrung der Unversehrtheit der Familie, von dem des weiteren Schutzes der gefährdeten Opfer in diesem speziellen Kontext zu trennen – wie es auch andere fordern. In diesem Sinne sollte eine neue Norm in Erwägung gezogen werden. Diese würde das Gericht verpflichten, systematisch zu prüfen, ob eine Verschärfung der Strafe für denjenigen, der eine Straftat gegen die sexuelle Integrität eines minderjährigen Familienmitglieds begangen hat, angemessen ist. Auch der Begriff der Familie sollte weiter gefasst werden als bisher. Die neue Rechtsvorschrift könnte sich am Beispiel des Artikels 200 des Strafgesetzbuches orientieren, der die gemeinsame Begehung einer Straftat gegen die sexuelle Integrität härter bestraft. Damit sollte es möglich sein, Ungleichbehandlungen zu beseitigen und einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der schutzbedürftige Opfer gleichermassen schützt und gleichzeitig den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten Rechnung trägt.

Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit der Jungen Akademie Schweiz. Der Originalbeitrag wurde auf Französisch verfasst und von Corinne Goetschel ins Deutsche übersetzt.

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