Das musst du wissen

  • Zeiten, in denen sich Kinder selber beschäftigen müssen, sind wichtig für ihre Entwicklung.
  • Doch viele Kinder sind heutzutage überstimuliert: Ihr Alltag ist durchorganisiert, sie werden selten alleine gelassen.
  • Sie haben verlernt, sich selber zu beschäftigen. Plötzliche freie Zeit kann sie dann sogar belasten.

Frau Spira, tut Kindern Langeweile gut?

Vielleicht sollten wir damit beginnen, den Begriff der Langeweile zu definieren. Sie ist oft negativ konnotiert, weil sie mit Verlassenheit und Einsamkeit assoziiert wird. Erwachsene empfinden sie als ein Manko. Bei Kindern sollte man eher von einer leeren Zeit sprechen, in der sie sich selbst beschäftigen müssen. Diese Momente ohne äussere Impulse sind wichtig für sie, damit sie lernen, ihre Autonomie zu entwickeln und selbst zu handeln. Das regt sie an, ihre Kreativität zu nutzen, Geschichten zu erfinden – was wir symbolische Spiele nennen. So können sie die Erlebnisse oder die Konflikte des Tages durchspielen, was für ihre Entwicklung wesentlich ist.

Ab welchem Alter kann man ein Kind eine Zeit lang ohne Aktivität alleine lassen?

Das muss früh beginnen, ab dem ersten Lebensjahr. Ein Baby kann ein paar Minuten allein in seinem Laufgitter oder auf seiner Matte bleiben. Es ist nicht notwendig, die ganze Zeit mit ihm zu interagieren. So kann es sich daran gewöhnen, seine eigenen Fähigkeiten zu nutzen. Schon ein sehr kleines Kind ist in der Lage, sich spontan für seine Umgebung zu interessieren. Diese Momente können dann mit zunehmendem Alter länger werden.

Sind die Kinder von heute überstimuliert?

In unserer Gesellschaft werden sie selten allein gelassen. Viele Eltern begleiten sie ständig, auch beim Einschlafen. Es kann sein, dass diese ständige Stimulation eine Projektion ihrer eigenen Vorlieben ist, weil sie selbst nicht gerne unbeschäftigt sind. Erwachsene vermeiden zunehmend ihre innere Welt. Im Bus oder in einer Warteschlange tauchen sie direkt in ihr Handy ein und geben sich keine Zeit mehr zum Nachdenken oder Tagträumen. Doch auch für Erwachsene spielen diese Momente eine wichtige Rolle bei der Bildung des Individuums.

Aber viele Eltern haben auch Angst, dass sie nicht genug tun, nicht wahr?

Seit den 1980er- und 1990er-Jahren heben Fachleute die Fähigkeiten von Babys hervor und die Notwendigkeit, sie von Geburt an zu stimulieren. Und ja, seitdem neigen die Eltern dazu, immer mehr zu tun. Sie melden ihre Kinder zum Beispiel immer früher und immer öfter zu ausserschulischen oder kreativen Aktivitäten an. Wenn sie es nicht tun, haben sie Angst, als schlechte Eltern angesehen zu werden, die ihren Kindern nicht alle Chancen geben.

Aber ich sehe noch einen weiteren Faktor in dieser Überstimulation. Lange Zeit war die Erziehung viel strenger. Kinder waren folgsam, widersprachen nicht und waren gegenüber dem Erwachsenen in einer Position des Gehorsams. Die Eltern stellten sich viel weniger Fragen über die Erziehung der Kinder. Nach Mai 1968 erlebte das Bildungswesen eine Revolution. Die Rechte des Kindes und seine Fähigkeiten wurden in den Vordergrund gestellt, und das zu Recht. Ich stelle diese Entwicklung überhaupt nicht in Frage, aber vielleicht ist das Pendel ein wenig zu weit in die andere Richtung geschwungen. Kinder sind jetzt unruhiger und fordernder, entwickeln manchmal sogar tyrannisches Verhalten. Eltern habe manchmal Mühe damit und ziehen es daher vor, sie mit einer Aktivität zu beschäftigen oder vor den Bildschirm zu setzen, um etwas Ruhe zu haben.

_____________

📬 Das Neuste und Wichtigste aus der Wissenschaft, jeden Dienstag und Donnerstag per E-Mail:
Abonniere hier unseren Newsletter! ✉️

_____________

Welche Schwierigkeiten können Kinder haben, die es nicht gewohnt sind, sich zu «langweilen»?

Ein Kind, das ständig beschäftigt ist, dessen Tage komplett von den Eltern organisiert werden, ist wahrscheinlich gegenüber allem hilflos, was nicht nach einer strukturierten Tätigkeit aussieht. Mit Zeit konfrontiert zu werden, wenn es nicht gelernt hat, sich selbst zu beschäftigen, und aus der es nichts Positives machen kann, wird schnell zur Belastung.

Diese Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, löst einen echten Teufelskreis aus. Es macht Kinder sehr passiv und wenn die Passivität zu einer Angewohnheit geworden ist, wird es für sie noch schwerer, in unbeschäftigten Momenten selbständig zu sein. Für die Jüngsten stellen Bildschirme ein weiteres Problem dar: Selbst wenn das Kind zu diesem Zeitpunkt ruhig ist, selbst wenn der Inhalt lehrreich und seinem Alter angepasst ist, wird seine Gehirnaktivität überstimuliert. Es nimmt Dinge auf, die es zu diesem Zeitpunkt nicht bewältigen kann, und wenn der Film stoppt, wird es unruhig.

Zu viel, zu wenig… Eltern sehen sich mit widersprüchlichen Anordnungen konfrontiert. Wo ist die richtige Balance?

Keiner kann das beantworten. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht eine Fähigkeit zulasten einer anderen bevorzugen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass das Gleichgewicht mit der Entwicklung des Kindes ständig ändert. In der Erziehung müssen wir immer zwischen widersprüchlichen Bedürfnissen abwägen: Autonomie und Stimulation, Autorität und Freiheit. Letztendlich muss jede Familie ihre Prioritäten selbst festlegen. Die Eltern möchte ich jedoch auffordern, die Autonomie ihres Kindes nicht zu vergessen und seine Zeit nicht restlos zu organisieren.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
Alle Beiträge anzeigen
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende