Zuerst die kleinen Zahlen: In der Schweiz verdient, wer nach einem Studium der Geisteswissenschaften in den Beruf einsteigt, pro Jahr im Schnitt 72 000 Franken. Die Einstiegslöhne von Absolventinnen und Absolventen von Studiengängen in exakten und Naturwissenschaften liegen 2 000 Franken tiefer, bei Recht sind es sogar 14 000 Franken weniger. Die Mär der brotlosen Geistes- und Sozialwissenschaften wird von den Zahlen des Bundesamtes für Statistik klar widerlegt.

Nun die grossen Zahlen: Während in der Schweiz das Interesse Studierender an der Palette der Geistes- und Sozialwissenschaften stabil bleibt, sinken in vielen Regionen der Welt die Studierendenzahlen stark oder werden Hochschulbudgets zusammengestrichen. Engpässe in der Hochschullehre führen zu Überlastung, Qualitätseinbussen und mittelfristig deshalb zu nachlassendem Interesse an Fächern, die sich befassen mit den Menschen, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft.

Lilian-Esther Krauthammer

Ausgerechnet. Während Bildungsoffensiven in Asien immer plakativer auf ihr Verständnis von kritischem Denken setzen, droht in der westlichen Welt die Jahrhunderte alte Tradition des Hinterfragens, wie sie von den Geistes- und Sozialwissenschaften gelehrt wird, wegzubrechen. Am Dartmouth College zum Beispiel, einer Hochburg der Humanities in den USA, ist der Anteil Studierender mit solchem Hauptfach seit 1969 von 26 auf 15 Prozent gesunken.

Interesse am Menschen als Basis für Laufbahn

Dies scheint absurd im Licht der Tatsache, dass auch in den USA viele einflussreiche Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik ihre Karriereleiter auf ein Fundament in Geistes- und Sozialwissenschaften abstützen, wo sie mehrperspektivisch denken gelernt haben. Das kann groteske Züge annehmen. Lloyd Blankfein etwa, Studium in Geschichte, dann Recht, pflegte seine «umfassende Persönlichkeit» zu loben – und agierte zugleich als CEO und Verwaltungsratspräsident von Goldman Sachs.

Lilian-Esther Krauthammer

Einzelfälle von Übernutzung der angeeigneten scharfen Werkzeuge also auch hier. Unumstrittene Beispiele erfolgreicher Laufbahnen aber, die auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Themen bauen, gibt es viele. Dazu zählt in der Schweiz etwa der Weg von Karin Keller-Suter vom Sprachprofi zur Bundesrätin. Nach der Ausbildung an der Dolmetscherschule Zürich (heute ZHAW) studierte sie Politologie in London sowie Montreal und Pädagogik in Fribourg.

Mit einem Studium in Medizin, Psychologie und Psychotherapie in Lausanne startete Bertrand Picard ins Berufsleben. Interesse für menschliches Verhalten in Extremsituationen lenkte die Studienwahl. Er wurde zum international anerkannten Psychiater mit Arbeitsschwerpunkt Hypnosetherapie, mit Ehrendoktorat in «Science and Letters». Berühmt ist er aber als erster, der die Welt 1999 im Heissluftballon und 2016, zusammen mit André Borschberg, im Solarflugzeug umrundete.

«I love the poorly educated»

Gemeinsam ist diesen Fällen, dass später erfolgreiche Berufsleute in ihrer Ausbildung ein Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften verbunden haben mit späteren oder gleichzeitigen Studien in anderen Bereichen wie Medizin, Wirtschaft oder Naturwissenschaft. Die Statistik zeigt, dass in der Schweiz über ein Drittel der AbsolventInnen mit Studienabschluss in Geistes- und Sozialwissenschaften fünf Jahre nach Studienabschluss eine Führungsfunktionen in der Privatwirtschaft innehaben.

Lilian-Esther Krauthammer

Umfassende Bildung schätzen aber nicht alle. «I love the poorly educated», frohlockte Trump 2016 im Wahlkampf in Nevada.

Tom Nichols, Professor für internationale Beziehungen in den USA, kommt 2017 in «The death of expertise» zum Schluss, dass «voters not only didn’t care that Trump is ignorant or wrong, they likely were unable to recognize his ignorance or errors.» Nichols verweist auf den Dunning-Kruger-Effekt: Unwissende erkennen ihr eigenes Unwissen nicht.

Da mögen politische Kräfte kaum erstaunen, die Wissenschaften überhaupt und besonders die kritisch fragenden Geistes- und Sozialwissenschaften abbauen wollen. Norman Denzin, Pionier der Mehrmethoden-Ansätze zur Analyse gesellschaftlicher Probleme, zeigt 2019 auf, dass der «death of data in neoliberal times» zurückgeht auf ein zu enges Repertoire an geförderten Forschungsmethoden, das den umfassenden, kritischen Blick auf Entwicklungen verstellt.

Verständigung statt Radikalisierung

Radikalisierung kann die Folge sein, wie sie sich in politischen Wahlen spiegelt, in denen zentrifugale Kräfte stärker wirken als einigende. Daniel Rockmore, Professor für Mathematik und Informatik am Dartmouth College, sieht die Ursache politischer Zentrifugen in fehlender Fähigkeit zur Verständigung: «It seems that the problems of the world boil down to me not understanding others and them not understanding me, and that’s a humanities problem.»

Was kostet es also, der Wissenschaft durch den Abbau von Geistes- und Sozialwissenschaften den Geist auszutreiben? Es kostet die Gesellschaft den Geist, der überzeugt statt überredet und übertölpelt. Es kostet das Können, auch Sichtweisen anderer wahrzunehmen und dann gemeinsam abzuwägen und weiterzubauen. Es kostet die Fähigkeit, sich über «Wahrheit, Wissen und Rationalität» öffentlich zu verständigen. Kurz: es kostet die Demokratie.

Lilian-Esther Krauthammer

Geistes- und Sozialwissenschaften können sich demnach doppelt lohnen: Im Kleinen als solide Basis für individuelle Laufbahnen und Beiträge zur Verständigung. Im Grossen für eine demokratische Gesellschaft, in der Respekt und Voneinander-Lernen mehr zählen als kurzfristiger Gewinn durch Abschottung und Mauern. Schon läuft Donald Trumps Kampagne für eine Wiederwahl ins Amt des Präsidenten der USA. In inspirierter, also vom Geist beflügelter, Gemeinschaft leben kann, wer gelernt hat, nach dem Sinn zu fragen hinter dem, was bestenfalls gerade gut funktioniert.

Daniel Perrin

Sprach- und Medienwissenschaftler

Daniel Perrin ist Sprach- und Medienwissenschaftler und Dozent mit Schwerpunkt Theorie und Methodik der Angewandten Linguistik, Medienlinguistik und Textproduktionsforschung. Er wirkt als Autor und Mitherausgeber führender Publlikationen seines Faches, wie des International Journal of Applied Linguistics und der de Gruyter Handbooks of Applied Linguistics Series. Seit 2017 ist Perrin Direktor des Departements Angewandte Linguistik der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur sowie Präsident der International Association of Applied Linguistics AILA. Im Mai 2019 wurde er in den Vorstand der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften berufen.

Weiterführende Informationen

  • Nichols, Tom. (2017). The death of expertise. The campaign against established knowledge and why it matters.
  • Kruger, Justin, & Dunning, David. (1999). Unskilled and unaware of it. How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessment. Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1121–1134
  • Dunning, David. (2011). The Dunning–Kruger effect. On being ignorant of one’s own ignorance. Advances in Experimental Social Psychology, 44, 247–296.
  • Denzin, Norman. (2019). The death of data in neoliberal times. Qualitative Inquiry.
  • Gregoire, Carolyn (s.o.)
  • Neuberger, Christoph u.a. (2019). Der digitale Wandel der Wissensordnung. Theorierahmen für die Analyse von Wahrheit, Wissen und Rationalität in der öffentlichen Kommunikation. M&K Medien & Kommunikationswissenschaft, 67(2), 167–186.

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