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Jan Vontobel: Es ist viel passiert seit der Sendung gestern, der Bundesrat hat erstens den Lockdown um eine Woche bis zum 26. April verlängert, und gleichzeitig auch angekündigt, dass es noch Ende April Lockerungen dieses Lockdowns geben sollte: Beat Glogger, schlechte Nachrichten gut verpackt, um den Durchhaltewillen der Bevölkerung gerade über die Ostertage zu steigern?
Beat Glogger: So könnte man es sagen, es deckt sich mit anderen Ankündigungen in anderen Ländern. Österreich beispielsweise kündigt auch eine Lockerung der Massnahmen an, aber gleichzeitig werden auch Massnahmen verschärft; man zieht die Bremse oder Schraube an und sagt, nachher werde es dann locker.
Unser Bundesrat hat es etwas weniger hart gesagt, aber im Prinzip müssen wir jetzt einfach durchhalten und man darf sich nicht zu viel versprechen von diesen Lockerungen. Epidemiologisch können Lockerungen fatal sein. Wir sehen jetzt, dass die Massnahmen wirken, die Infektionskurve flacht ab, aber, wie ich es schon gestern sagte, sie geht noch nicht zurück, sie steigt immer noch, einfach nicht mehr so steil.
Jetzt aufzugeben wäre verheerend und ich denke, man sollte der Bevölkerung eigentlich sagen: Liebe Leute, das kann noch lange dauern und wir schauen, was wir lockern können. Aber glaubt ja nicht, dass ab dem 26.4. alles beim Alten sein wird, dort sind wir noch lange nicht.
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Jan Vontobel: Der Bundesrat Alain Berset sagte ja auch, man müsse das weiter beobachten und man wisse noch nicht genau, was dann in zweieinhalb Wochen sei. Da hat er sicher recht, aus virologischer und epidemiologischer Sicht: eine extreme Lockerung schon fast Richtung «Courant normal», das ist unrealistisch, auch in zweieinhalb Wochen.
Beat Glogger: Das ist völlig unrealistisch, denn wir sehen jetzt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, die Kurve flacht ab, aber wir haben im Moment um die 25 000 dokumentierte Fälle; Wenn man jetzt noch eine Dunkelziffer rechnet, und selbst wenn man diese zehnmal rechnet, das heisst, wenn es 250 000 Menschen sind, die die Infektion schon durchgemacht haben, dann sind das unter 3 Prozent der Schweizer Bevölkerung.
Da ist also noch immer ein riesiges Potenzial einer zweiten oder dritten Welle dieser Epidemie oder Pandemie möglich. Also, auf keinen Fall zu früh lockern; aber natürlich dort, wo es möglich ist, wo man das Risiko kennt. Aber nicht übermütig werden, sonst ist der ganze Erfolg, den wir jetzt haben, dahin.
Jan Vontobel: Es ist ein politischer Entscheid, aber aus wissenschaftlicher Sicht, virologisch, epidemiologisch, welche Lockerungen wären denn da am ehesten denkbar in zweieinhalb Wochen?
Beat Glogger: Das ist schwierig. Aber es ist nicht einzusehen, warum ein Take-Away offen haben darf und ein Telekomshop nicht. Das heisst, jetzt haben diese Shops wieder geöffnet, sie haben sich ja freiwillig dem Lockdown angeschlossen. Aber dann bleibt die Frage, warum ein Velomechaniker nicht? Das ist sehr schwierig, dies über «die Branche oder über einen Kamm zu scheren». Ich denke, man müsste die Regeln genauer definieren: wie nahe darf man sich sein, wie viele Berührungen darf es geben? Bei den Physiotherapeuten, Coiffeuren etc. Ich würde es nicht nach Branchen, sondern nach Regeln definieren. Und dann bestimmen, wo man diese Regeln einhalten kann, dort kann gelockert werden. Aber sonst wird das wahnsinnig schwierig.
Jan Vontobel: Für Gesprächsstoff ist also gesorgt in den nächsten Wochen mit diesen Ankündigungen des Bundesrats. Diese Distanz- und Hygienemassnahmen haben ja zum Ziel, dass man die Ansteckungen reduzieren kann. Schon seit mehreren Wochen weibelt aber der Ökonom Reiner Eichenberger von der Universität Freiburg genau für das Gegenteil: er sagt, Menschen, die die Krankheit Covid-19 durchgemacht haben, könnten das Virus nicht mehr weiterverbreiten.
Das heisst, wenn man die Zahl der Infizierten gezielt erhöhe, also Menschen anstecke, dann könne man die Wahrscheinlichkeit von unerwünschten Ansteckungen senken. Was sagst du zu dieser Idee?
Beat Glogger: Reiner Eichenberger ist rhetorisch sehr geschickt und im ersten Moment habe auch ich gestutzt und mir gedacht, dass das eigentlich stimme… Aber diese Erklärungen sind nur auf den ersten Blick plausibel, denn er spricht immer davon, dass «Immune keine anderen anstecken könnten». Aber da ist ein Grundfehler in seiner Argumentation: es stimmt zwar, immune Menschen können die Krankheit nicht übertragen. Aber niemand weiss, ob man immun ist nachher. Natürlich ist es infektiologisch oder immunologisch naheliegend, dass man eine gewisse Immunität hat, aber damit ist man noch nicht völlig immun. Man weiss nicht wie lange, man weiss nicht ab wann, und man weiss nicht in welchem Mass.
Und das sind drei Unsicherheitsfaktoren, auf die er [Eichenberger] seine Theorie dieser «gezielten Immunisierung» abstützt. Wenn man ihr aber dieses unsichere Fundament nimmt, dann bricht meiner Meinung nach, seine ganze darüber gebaute Theorie zusammen.
Jan Vontobel: Wenn wir aber annehmen, dass es diese Immunität gebe – da gibt es Hinweise darauf; man weiss nicht wie lange, man rechnet mit drei bis fünf Jahren, wenn man das mit ähnlichen Krankheiten oder Viren vergleicht – dann ist das wahrscheinlich realistisch, ohne dass man das schon belegen konnte. Dann ist aber noch ein anderer Punkt offen: Es gibt auch schwere Verläufe bei Menschen, die nicht zur Risikogruppe gehören, eine solche Durchseuchung wäre hochriskant.
Beat Glogger: Er sagt beispielsweise in einem NZZ-Artikel, ich zitiere: «diese Immunisierung ist nicht riskant», «die Risiken sind nicht gleich Null aber relativ klein» und «für die meisten von uns». Schauen wir uns nur diese drei Begriffe an: «nicht riskant», «relativ klein» und «die meisten von uns». Da gibt er eigentlich zu, dass er es selbst überhaupt nicht weiss. Das muss er als Ökonom ja auch nicht wissen, aber dann sollte er sich bei den Immunologen und Epidemiologen informieren, was «relativ klein» denn heisst.
Das heisst, dass es Menschen gibt, für die das Risiko gross ist. «Für die meisten von uns» heisst, dass es für eine kleine Gruppe aber schlimm ist, und diese klammert er aus. Du hast es gesagt, es gibt junge Menschen, die schwere Verläufe hatten, und es gibt junge Menschen, die gestorben sind. Wenn er [Eichenberger] jetzt gezielt junge oder jüngere Menschen infizieren möchte, dann nimmt er in Kauf, dass «die meisten» es überleben, aber die wenigsten sterben. Oder für die meisten ist es «nicht riskant», aber für einige eben schon.
Und da nimmt er ein Risiko in Kauf, das unter Umständen Todesfälle bedeutet. Und dann sagt er noch, dass man gezielt infizieren müsse, und – in einem Nebensatz – wie man das genau mache, müssten die Mediziner wissen… Aber ich stelle mir jetzt vor, ein Arzt oder eine Ärztin würde einem gesunden jungen Menschen, der risikobereit ist, diese Viren in die Nase sprayen… Und den meisten macht das nichts, die haben einen milden Verlauf.
Hat man jetzt aber eine Person, die einen schweren Verlauf macht, wird es ziemlich heftig. Und da sagt Herr Eichenberger, dass er «die Verantwortung übernehmen» würde. Das ist ein grosses Wort, denn wie will er diese übernehmen?
Jan Vontobel: Was bedeutet das überhaupt?
Beat Glogger: Er sagt, er würde die Verantwortung übernehmen, ja gut, es wäre für ihn «ein Reputationsverlust». Ein Reputationsverlust eines Uniprofessors versus einen Menschen, der auf der Intensivstation an einem Beatmungsgerät um sein Leben kämpft- Da muss ich einfach lachen.
Das sind Vergleiche, die man nicht machen kann, auch wenn seine Reputation ramponiert wäre, aber auf der Intensivstation liegt jemand, der vielleicht stirbt. Das kann man nicht gegeneinander abwägen.
Jan Vontobel: Da spielen auch ethische Fragen eine wichtige Rolle, da sind wir mitten im Thema. Darum haben wir heute auch eine Frau virtuell zu dieser Sendung eingeladen, wir nehmen die Sendung ja nicht zusammen im Studio auf, sondern über Leitungen. Eine Expertin in diesem Bereich: Tanja Krones- Sie leitet die klinische Ethik am Universitätsspital Zürich, sie ist Medizinerin und Soziologin. Guten Nachmittag Frau Krones, danke dass sie sich die Zeit nehmen.
Tanja Krones: Hallo Herr Vontobel.
Jan Vontobel: Frau Krones, darf man das überhaupt, solche Ideen einbringen wie der Herr Eichenberger.
Tanja Krones: Naja, selbst zu denken glaube ich, ist ein ganz wichtiger Punkt. Aber was man sagt und wie man das sag – das ist glaube ich [bei Beat Glogger] schon ein bisschen angeklungen – ist natürlich nicht unproblematisch. Ich glaube, es ist erstmal wichtig zu sagen, es gibt Punkte (und es ist ja auch wichtig, dass man das ein bisschen trennt, aber das macht er eben leider nicht) Punkte in seiner Argumentation, da würde ich als Ethikerin sagen, die sind korrekt.
Korrekt ist zum Beispiel, wenn er sagt, gerettete Lebensjahre seien wichtig. Es ist wichtig, dass wir Abwägungen machen und die werden ja auch gemacht: wie weit können wir den totalen Lockdown verrechnen mit den sogenannten Opportunitätskosten, das heisst, mit dem Problem, das die Wirtschaft jetzt hat, was auch wieder Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann. Das ist also völlig korrekt.
Aber die Probleme seiner Argumentation liegen auf verschiedensten Ebenen: auf der medizin-forschungsethischen Ebene, auf der wissenschafts-ethischen Ebene und auch soziologisch-philosophisch. Wenn wir erst mal damit anfangen: Natürlich ist es nicht legitim, Menschen gezielt zu infizieren. Er macht da den Vergleich, dass er sagt, wir nehmen ja auch das Risiko einer Impfung in Kauf.
Da vergleicht man sozusagen Äpfel mit Birnen. Denn bei einer Impfung ist das Risiko 1:1 000 000, dass etwas passiert, aber das Risiko ist kalkulierbar. Bei der Infektion, und das ist genau das Problem im Moment, wissen wir eben nicht, wie hoch das Risiko ist. Das geht von einer asymptomatischen nicht problematischen Infektion bis zur Intensivstation. Das sind einfach unzulässige Vergleiche, da fängt es schon an problematisch zu werden bei ihm [Eichenberger].
Jan Vontobel: Impfungen werden ja aich erst nach einem ausführlichen Testverfahren zugelassen, wenn man grosse klinische Studien gemacht hat. Das Wissen [über das Virus Sars-CoV-2] reicht im Moment noch nicht, um ein solches Durchseuchungsexperiment überhaupt in die Tat umzusetzen.
Tanja Krones: Genau. Durchseuchungsexperimente an und für sich sind wirklich forschungsethisch zutiefst problematisch. Das waren genau diese Experimente, die letztlich dazu geführt haben, dass wir eine Forschungsethikkommission bekommen haben. Das ist der sogenannten «Beechers-Bombshell», so nennen wir das: das war vor über fünfzig Jahren, dass Henry Beecher, er war selbst Arzt, Studien und auch Experimente veröffentlicht hat, die eben zutiefst unvertretbar waren und dazu zählten unter anderem auch gezielte Infektionen.
Jan Vontobel: Können sie das etwas ausführen, was hat man da genau gemacht und was ist passiert?
Tanja Krones: Ein Beispiel war eben z.B. die «Willowbrook Hepatitis Study», da hat man Kinder mit Hepatitis-Viren gefüttert, um die Ausbreitung der Hepatitis und die Immunisierung anzuschauen. Dann hat man die «Tuskegee-Study», wo man den natürlichen Verlauf der Syphilis angeschaut hat. Da war sogar das Center of Disease Control über Jahrzehnte beteiligt. Und da war nicht nur das Problem, dass man sich diese natürliche Durchseuchung, – ein übrigens schöner Begriff, der da gewählt wird —angeschaut hat, sondern selbst dann, als es schon Penicillin gab, d.h. Behandlungsmethoden; hat man das den Menschen nicht angeboten, sondern man war mehr daran interessiert, sich wissenschaftlich anzuschauen, wie dieser natürliche Verlauf weitergeht. Und das hat zutiefst das Vertrauen der afroamerikanischen Bevölkerung in die Wissenschaft bis heute gestört, denn das war eine arme Bevölkerung in Alabama County.
Jan Vontobel: Aber wo ist dann der Unterschied? Man macht ja auch klinische Studien, in denen sich Menschen zur Verfügung stellen, um Medikamente zu testen. Warum ist eine Durchseuchung etwas Anderes?
Tanja Krones: Erstmal ist eine klinische Studie etwas Anderes als ein Sozialexperiment. Es ist ja keine Studie, die Eichenberger vorschlägt, sondern ein grosses Experiment, ein Menschenexperiment macht mit einem gewissen Risiko. Dann braucht es in einer Studie auch ganz andere Bedingungen, die überhaupt nicht gegeben sind, bei dem was Eichenberger vorschwebt, dass man gezielt d.h. gelenkt immunisiert.
Jan Vontobel: Wäre das denn überhaupt mit einem Hippokratischen Eid, denn man ja auch als Arzt leistet, wäre das vereinbar?
Tanja Krones: Oh, jetzt bringen sie was an, das ist ein anderes Nebenthema. Den Hippokratischen Eid gibt es nicht, das ist ein Mythos. Aber es ist mit den forschungsethischen Grundsätzen sicher nicht vereinbar. Und dann gibt es noch weitere Punkte, die ich ganz problematisch finde. Auch an seiner Rhetorik und wie er argumentiert. Wichtig ist: wenn man Wissenschaft betreibt – und Ökonomen hören das zwar nicht gerne, aber die Ökonomie ist auch eine Sozialwissenschaft, die auch sehr viel mit Psychologie zu tun hat, es ist keine Naturwissenschaft… Und einer der Begründer der Sozialwissenschaft war Max Weber, der deswegen diese Wissenschaft gegründet hat, weil er sagte, es ist wichtig, Wissenschaft als Beruf zu begreifen, und zu trennen wenn man sich als Wissenschaftler äussert und die Grenzen zu kennen des eigenen Wissens, oder ob man sich als Politiker äussert.
Das Problem ist, dass Herr Eichenberger leider die Neigung hat, beides zu vermischen. Das merkt man unter Anderem, dass er rhetorische Elemente einbringt, zum Beispiel spricht er von «wilder Durchseuchung» und «gelenkter Immunisierung». Das suggeriert, das Eine wäre total gefährlich und das Andere beherrschbar. Das ist völliger Blödsinn, weil das genau so wenig beherrschbar ist.
Und da habe ich mir gedacht, würde er genau so argumentieren, wenn man den «Raubtierkapitalismus», der ja auch Menschenleben kostet, wenn man es denn so bezeichnet, dem würde eine «gelenkte Wirtschaft» gegenüberstellen, da wäre wohl Herr Eichenberger nicht einverstanden.
Und was er sonst auch noch macht, er stellt sehr einseitig dar, was ethische Aspekte sind. So spricht er vom «Utilitarismus», das ist wichtig, aber auf der anderen Seite stehen eben die Menschenrechte, und steht eben diese sogenannte Rettungsethik, The Bull of Rescue. Und die Menschenrechte, und das ist eben das Schmerzhafte, dass es ein Dilemma ist, und dass wir das vereinbaren müssen.
Aber das Problematischste ist, dass er behauptet, in dem Beitrag, ich habe ihm gut zugehört, er würde die Denkfigur des sogenannten «Schleier des Nichtwissens» gerne in Anschlag bringen. Er [Eichenberger] behauptet unter dem «Schleier des Nichtwissens» würden die Menschen alle der utilitaristischen Logik folgen…
Jan Vontobel: Vielleicht können wir Utilitarismus kurz erklären?
Tanja Krones: Ja gerne. Utilitarismus heisst, dass wir danach schauen, jeder zählt einmal aber nicht mehr als einer. Und das grösste Glück der grössten Zahl ist entscheidend – und damit gerettete Lebensjahre. Und dass wir das dann alle als die wichtigste ethische dann Theorie sehen würden, wenn wir selbst nicht wüssten, wie es nachher aussieht.
Aber gemäss dieser Theorie ist genau das Gegenteil der Fall: John Rawls ist derjenige Philosoph, der dieses Gedankenexperiment für eine gerechte Gesellschaft aufgestellt hat. Und John Rawls geht davon aus, dass wir unter dem «Schleier des Nichtwissens» a) sogenannt risikoavers sind, das heisst, wir wollen selbst keine akuten Risiken auf uns nehmen, auch für langfristigen guten Nutzen nicht. Also das wäre entgegen Herrn Eichenbergers Theorie: John Rawls sagt, dass wir ein gleiches System von Grundfreiheiten haben, dass jeder Mensch, egal ob Flüchtling, egal ob schlechtgestellt, egal ob reich, die gleichen Grundfreiheiten in einer Gesellschaft hat.
Und als Drittes das sogenannte «Differenzprinzip», dass die am schlechtesten Gestellten, denen man am meisten Gutes tut, also ganz entgegen der utilitaristischen Logik. Und das finde ich am schlimmsten, wenn Herr Eichenberger sich als Wissenschaftler äussert und dann eine wirklich sehr bekannte ethische Theorie völlig verquer darstellt.
Jan Vontobel: Sie sagen, dass er dort, wo es ihm nützt, irgendwelche Theorien zitiert, und dort, wo es ihm nicht so passt, dort zitiert er nicht mehr wissenschaftlich, sondern aus dem Alltagswissen.
Tanja Krones: Ja. Er hat einen Kern und er hat ganz gute Ideen. Und es ist auch wichtig, selbst zu denken, auch provokante Idee zu äussern, das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Aber diese Vermischung finde ich sehr gefährlich, wenn man als Wissenschaftler auftritt, und da kommt er mir manchmal wirklich vor wie ein demagogischer Geschichtenerzähler. Er hat eine sehr verengte Sicht auf die Menschheit und die Dinge hat.
Jan Vontobel: Das ist ein sehr hartes Urteil. Beat Glogger, was sagst du zu diesen Ausführungen?
Beat Glogger: Ich denke, es tönt plausibel, was Frau Krones sagt. Ich hätte aber noch eine grundlegendere Frage: Wenn ich mir vorstelle, ein Arzt oder eine Ärztin müsste jemandem, wie ich es vorhin sagte, solche Viren verabreichen, was ein Experiment wäre. Jetzt gibt es in der Schweiz für jedes Experiment, selbst wenn man fünf Mäusen Blut nehmen möchte, kommt das vor die Tierschutzkommission. Oder klinische Versuche am Menschen kommen vor eine Ethik-Kommission. Hätte ein solches Experiment jemals eine Chance, bewilligt zu werden? Und was würde mit dieser Ärztin oder diesem Arzt passieren, wenn der Mensch nachher in schwere Komplikationen geraten würde.
Also dieser Arzt hätte dann ja Jemanden getötet und könnte man ihn überhaupt von dieser Verantwortung entbinden? Wie sehen sie das Frau Krones?
Tanja Krones: Ich weiss gar nicht was ihm ehrlich gesagt vorschwebt, aber er ist da ein bisschen unklar. Ob er jetzt wirklich meint, wir spritzen Viren in die Nase, oder ob er einfach sagt, wir lassen die Menschen gezielt raus und sie kommen regelmässig zum Arzt, das ist mir nicht ganz klar. Aber wie Sie sagen, Menschen gezielt zu infizieren, das ist natürlich überhaupt nicht durchführbar. Ganz klar.
Jan Vontobel: Und wenn sich Menschen freiwillig zu Corona-Partys treffen würden und sich so dann lange in einem Raum aufhalten würden, das wäre etwas Anderes aus medizin-ethischer Sicht.
Tanja Krones: Ja natürlich ist das was anderes. Das ist ja der Freiheitsgrad, den wir Menschen natürlich haben, und Freiheit ist ja auch immer mit Verantwortung verbunden; also Freiheit ist ethisch nicht ohne Verantwortung denkbar. Das ist glaube ich der wichtige Punkt. Und es ist natürlich etwas grundsätzlich Anderes, es unter diesen Voraussetzungen zu machen. Also es ist nicht grundsätzlich falsch, was er sagt mit der Durchseuchung, ich glaube das ist ganz klar. Es wird so kommen. Aber […] (wir dürfen nicht) akut Menschenleben gefährden dadurch, dass wir Knappheiten schaffen, sondern dass wir wirklich versuchen, den Peak […] zu glätten, nicht auf einen Schlag viele Schwerstkranke kriegen. Das ist genau das, worauf wir zielen: die Menschenleben jetzt akut zu retten. Und da sagt er [Eichenberger] auch in seinem Beitrag, das wären gar nicht die Berechnung oder die Massnahmen, die darauf zielen. Das ist völlig falsch. Darauf zielen die Massnahmen.
Beat Glogger: Corona-Partys wären ausserdem nicht mehr eine kontrollierte Infektion, wir haben das ja von verschiedenen Situationen gesehen, nicht zuletzt in den Kreuzfahrtschiffen. Wenn viele Menschen beieinander sind, infizieren sich ja nicht alle. Somit wäre eine Corona-Party schon nicht mehr «kontrolliert», weil wir keine Ahnung haben, wer nachher infiziert ist.
Will man dann alle Menschen, die an einer Corona-Party waren, einer permanenten ärztlichen Beobachtung unterwerfen? Das ist logistisch und nicht nur ethisch überhaupt nicht durchführbar. Das ist eine völlig absurde Vorstellung.
Tanja Krones: Wir hatten die Corona-Partys ja in Form von freikirchlichen Versammlungen, in Form von Fussballstadien, in Form von Karnevalspartys; also diese Nummer haben wir schon durch, glaube ich. Und die war jetzt nicht so zielführend.
Jan Vontobel: Ich sehe, da haben wir auf beiden Seiten grosse Vorbehalte, was das anbelangt, so eine Durchseuchung aus ethischer Sicht, aber auch aus medizinischer Sicht natürlich.
Tanja Krones, besten Dank, dass sie sich die Zeit genommen haben, um in dieser Sendung auch über die ethischen Aspekte zu sprechen und dann wünsche ich noch ganz schöne Ostern.
Tanja Krones: Danke schön!
Jan Vontobel: Beat Glogger, ethisch ist ein solches Experiment also höchst fragwürdig, es bleibt noch eine andere Frage, wenn man das machen wollte; wie lange würde es denn dauern bis man eine solche Herdenimmunisierung hätte? Man spricht da ja von etwa 70 Prozent der Bevölkerung, die infiziert sein müsste.
Beat Glogger: Wahrscheinlich spielt es nicht mal eine Rolle, ob die Idee Eichenberger geht (sie wird nicht funktionieren), oder ob man der Epidemie unter diesen eingeschränkten Bedingungen ihren minimalen Lauf lässt. Ja, wir brauchen 70 Prozent Immunisierung in der Bevölkerung. Das hängt ab von der Ansteckbarkeit der Krankheit. Bei Masern zum Beispiel ist es noch viel höher, weil sie viel ansteckender ist. Aber sagen wir mal etwa 70 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer müssten diese Krankheit gehabt haben.
Jetzt können wir ausrechnen: man hat unter den geltenden Bedingungen, also mit diesen harten Massnahmen, haben wir innerhalb von zwei Monaten etwa 24 000 Infektionen dokumentiert. Jetzt kommt noch die grosse Dunkelziffer… Sind wir mal sehr grosszügig und sagen, es seien zehnmal mehr Infizierte, also 240 000 Menschen waren bereits in Kontakt. Und jetzt bin ich gleich nochmals grosszügig und sage, damit es einfacher zu berechnen ist, 250 000 Menschen sind infiziert. Das ist von der ganzen Bevölkerung immer noch ein sehr kleiner Prozentsatz von diesen 8.6 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen der Schweiz. Wenn man das umrechnet, um 70 Prozent dieser 8.6 Millionen zu infizieren mit der Infektionsraten, die wir bis jetzt während dem Lockdown hatten, dann dauert das 24 Monate. Und wenn jemand glaubt, vor 24 Monaten sei Covid-19 ausgestanden, der irrt gewaltig. Und wer glaubt, man könne jetzt ganz schnell lockern, der irrt sich nochmals.
Es wird Massnahmen geben, die sich in mehr oder weniger harten Ausprägung über die nächsten 24 Monate hinziehen werden. Es muss ganz deutlich gesagt werden: alle die, die jetzt sagen, sie hätten ein Recht auf ihr Ferienhäuschen, ich habe ein Recht auf die Parkanlagen, ich habe ein Recht auf Party, das ist der Preis: 24 Monate.
Jan Vontobel: Wo man die Massnahmen zum Teil lockern kann und so weiter… Aber verschwinden wird das Virus nicht so schnell, da muss man weiterhin auf einen Impfstoff hoffen.
Beat Glogger: Das ist ohne Impfstoff gerechnet, und ich glaube, nur auf die natürliche Immunisierung zu hoffen, ist ein Luftschloss. Wir müssen diese Impfung haben, sonst wird uns Covid-19 zu Covid-20 und zu Covid-21 immer wieder beschäftigen mit Ausbrüchen an diesem oder an einem anderen Ort.
Diese Sendung gibt es als Podcast auf radio1.ch und higgs.ch.
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