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Jan Vontobel: Der Bundesrat hat gestern den sehnlichst erwarteten Fahrplan bekannt gegeben, wie die Schweiz den Weg aus dem Lockdown meistern will. Wir haben dies bereits im Vorfeld thematisiert in dieser Sendung. Es gab keine grossen Überraschungen. Das ist wohl sinnvoll aus wissenschaftlicher und epidemiologischer Sicht, dass man schrittweise vorgeht und nicht alles gleichzeitig wieder öffnet?

Beat Glogger: Wir können dieser schrittweisen Öffnung fast schon als wissenschaftliche Art bezüglich dem Vorgehen bezeichnen. Wenn man alles miteinander aufgemacht hätte, hätte man gar nicht gesehen, welche Massnahmen einen Effekt hatten. Und vor allem hätte man nicht gesehen, wenn es schief gehen würde – wenn zum Beispiel die Infektionen wieder stiegen – wegen was sie wieder steigen. Wenn man es nun Schritt für Schritt macht, Branche für Branche, dann kann man sagen, wenn man das aufmacht, passiert das. Es ist eine sehr vernünftige Art und Weise und vor allem eine sehr kontrollierbare Art und Weise.

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Jan Vontobel: Also fast ein Feldversuch, den man hier macht. Natürlich kann man über einzelne Entscheide diskutieren, das wird in der Politik auch bereits getan. Natürlich gibt es gewisse Ungerechtigkeiten, aber irgendeine Priorisierung musste man vornehmen. Es ist mehr ein politischer Entscheid und weniger ein wissenschaftlicher, was man in welcher Reihenfolge wieder öffnet.

Beat Glogger: Wissenschaftlich begründet, ist einfach, dass man es schrittweise und so kontrollierbar macht. Welcher Laden nun zuerst aufmachen darf, das ist nicht an mir das zu entscheiden. Aber insgesamt würde ich sagen, dass dies der richtige Weg ist.

Jan Vontobel: Wir haben in der Schweiz nun ziemlich genau einen Monat lang scharfe Lockdown-Massnahmen. Und gestern ist vom Bundesrat auch nochmals klar das Social Distancing angeordnet worden, dies bleibt sicher noch eineinhalb Monate. Darum wollen wir heute auch darüber diskutieren, welche Effekte und Auswirkungen so ein Lockdown beziehungsweise das Social Distancing auf die Gesellschaft hat. Beat Glogger, soziale Isolation, das hat einen messbaren Effekt auch auf das Hirn.

Beat Glogger: Ja, das ist so. Man könnte sagen, «das ist nur Einbildung», «Tut nicht so schwach» «Seid keine Weicheier» und so, aber ich habe tatsächlich eine ganz frische Studie gefunden vom 27. März 2020 vom Massachusetts Institute of Technology. Die haben Probanden und Probandinnen untersucht. Einerseits haben sie diese befragt, andererseits haben sie sie aber auch in Magnetresonanztomografen gesteckt, das sind diese Röhren, mit welchen man wunderbar farbige Hirnscans machen kann.

Dann haben sie geschaut, was erzählen diese Leute nach sozialer Isolation. Und jetzt muss man aufpassen: Die Probanden und Probandinnen waren zehn Stunden isoliert. Und dann wurden sie gefragt, wie sie sich fühlen. Die haben natürlich geantwortet, dass sie sich gelangweilt fühlen oder unterbeschäftigt. Dass es ihnen auch schlecht geht. Ist das nun Einbildung? Nein, man sieht das im Gehirn. Es ist physiologisch feststellbar und neurobiologisch messbar. Die Forschenden haben mit der funktionalen Magnetresonanztomografie im Mittelhirn einen Bereich gefunden, welcher Nahrungsreize sowie soziale Reize verarbeitet. Und sie stellten fest, dass Hungern ein bestimmtes Muster und gewisse Reaktionen auslöst. Und ein gleiches Muster löst eine soziale Isolation von nur zehn Stunden aus. Es ist also tatsächlich so, dass im Hirn etwas passiert. Die Wissenschaftler nennen dies «sozialer Hunger» oder der «Hunger nach Kontakt». Und dieser ist dann wie der Hunger nach Nahrung.

Dann haben sie überprüft, ob das ein Messfehler sein könnte. Dazu haben sie den Leuten, die gefastet haben, Bilder von Nahrung gezeigt. Und dann geht die Aktivität (im Hirn) sofort nach oben, das Belohnungssystem meldet sich und suggeriert, dass man demnächst was zu essen bekommt. Und dann haben sie den sozial isolierten Bildern von Nahrung gezeigt. Und es ist nichts passiert. Aber wenn sie ihnen Bilder von kommunikativen Situationen gezeigt haben, hat das Belohnungssystem reagiert. Das heisst, es gibt einen Hunger nach Nahrung und es gibt einen Hunger nach sozialer Interaktion. Und das fand ich interessant. Vor allem finde ich interessant, dass sich dieser Hunger schon nach 10 Stunden schon meldet.

Jan Vontobel: Das heisst natürlich, ein solch langer Lockdown, obwohl man natürlich nicht ganz sozial isoliert ist, wird grosse Folgen haben. Ich kann jetzt hier eine Expertin für die gesellschaftlichen Folgen dieser Coronakrise hinzuschalten. Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich. Guten Tag, Frau Rost.

Katja Rost: Guten Tag.

Jan Vontobel: Besten Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Sie beobachten die Auswirkungen auf die Gesellschaft durch die aktuelle Krise. Man spricht oft über die Solidarität in der Gesellschaft, welche jetzt spielt. Ist die wirklich so gross? Sehen Sie das auch so?

Katja Rost: Das sehe ich mittlerweile nicht mehr so. Am Anfang hatten wir tatsächlich eine grosse Solidaritätswelle. Was wir momentan aber beobachten, ist dass sie zurück geht und eher Konflikte in der Gesellschaft zunehmen.

Jan Vontobel: Wie sieht man das? Gibt es einzelne Beispiele oder kann man das auch wissenschaftlich belegen?

Katja Rost: Ich sage mal, es gibt einzelne Beispiele und wissenschaftlich belegen kann man es auch. Zum Beispiel wenn es um die Stadt- und Landbevölkerung geht, das wurde auch in der Zeitung besprochen. Dass die Landbevölkerung daran stört, dass die Städter aufs Land gehen und eben ein bisschen Freizeit verbringen möchten, weil die Gefahr besteht, dass das Virus aufs Land getragen würde, das ist so ein typischer Konflikt, dass man eben andere nicht daran teilhaben möchte. Oder eben auch dieser viel beschworene Generationenkonflikt, bei welchem sich junge Leute beschweren, dass sie auf Kosten der Älteren angeblich zu Hause bleiben müssen oder eben die Wirtschaft ruiniert wird. Das sind Beispiele für Konflikte, die sich auftun.

Und der wissenschaftliche Hintergrund ist, dass wir natürlich in solch einer Schocksituation zunächst einmal sehr hilfsbereit sind, das haben wir auch währen der Flüchtlingskrise beobachtet, aber am Ende ist dann doch jeder sich selbst am nächsten. Und die Frage ist dann, welche Nachteile bringen solch ein langfristiges Verhalten für mich. Und das versuchen wir natürlich als Nutzenmaximierer unseren eigenen Nutzen zu maximieren.

Jan Vontobel: Das heisst, dass ich mich persönlich, wenn ich mich nicht an die Regeln halte, stelle ich mich besser, kann ich nur davon profitieren, solange sich die ganze Gesellschaft sonst an diese Regeln hält. Ist dies das Problem?

Katja Rost: Das ist eines dieser Probleme. Es gibt das sogenannte Kollektivgutproblem. Es gibt aber auch viele Subgruppen, spezifische Normen, die für grosse Unternehmen, die für kleine Unternehmen, für ältere oder jüngere Leute, eben getrennt gelten und da stelle ich mich auch selber am besten, wenn ich mich an die Normen meiner Subgruppe halte und an die anderen Normen eben nicht.
Jan Vontobel: Sie haben gesagt, dass die Solidarität langsam am Bröckeln ist, Risse bekommt. Jetzt haben wir einen Monat Lockdown. Es ist klar mindestens bis am 8. Juni bleiben diese Social-Distancing-Regeln vom Bundesrat eingesetzt. Das heisst, es könnte immer mehr kippen in nächster Zeit?

Katja Rost: Das ist zu befürchten. Und sofern ist es eben wichtig, dass möglichst bald eine klare Struktur festgelegt wird, was in Zukunft beispielsweise mit der Kinderbetreuung im Detail passieren wird. Oder wann zum Beispiel Freizeitangebote wieder nutzbar sind. Das ist für die Leute eine kurze Zeit tragbar, aber der Verzicht wird natürlich immer grösser. Und auch die Kosten, die damit einhergehen.

Jan Vontobel: Das heisst, ein langfristiger Fahrplan ist eigentlich wichtig, dass man einen solchen hat und ein solcher auch bekannt gegeben wird. Dass man ein bisschen weiss, an was man sich halten kann. Reicht das, was der Bundesrat gestern bekannt gegeben hat? Er blieb ja trotzdem sehr vage in verschiedenen Punkten.

Katja Rost: Ja, das muss er. Das ist natürlich ein Dilemma. Der Bundesrat kann auch nur so viel entscheiden, wie er entscheiden kann in der jetzigen Situation.

Jan Vontobel: Aber zum Beispiel in Deutschland und Dänemark hat man bereits angekündigt, dass es bis Ende August keine Grossveranstaltungen geben wird. Daran kann man sich orientieren. In der Schweiz heisst es, wir schauen mal, wie es weiter geht.

Katja Rost: Nun gut, da kann man sagen, da sind alle Länder genau gleich schlau. Da ist Deutschland nicht schlauer als die Schweiz. Die haben halt dort quasi schon ein Datum gesagt, was aber auch wiederum über den Haufen geworfen werden kann, das ist ein sehr vages Datum. Aber prinzipiell stimmt es natürlich, dass es gut wäre, den Leuten ganz klar quasi Lichtblicke zu geben. Oder eben einen Ausblick zu geben, weil momentan ist das Problem, dass die Unsicherheit extrem gross ist, weil eben solchen klaren, einheitlichen Regeln in der Gesellschaft und verbindliche soziale Normen fehlen und das verringert soziale Ordnung und führt zu Angst, Verunsicherung, Unzufriedenheit bis hin zum Selbstmord.

Jan Vontobel: Selbstmord, sagen Sie. Beat Glogger, da hast du auch recherchiert. Kann man da etwas feststellen, wie ist das so in der Krise. Ist es tatsächlich ein grösseres Problem, dass diese Zahlen zunehmen?

Beat Glogger: Wir haben verschiedene Studien zu Selbstmord gefunden, welche sich nicht zu hundert Prozent ergänzen. Eine hat suicide mortality und Covid-19 bereits untersucht, wurde am 10. April untersucht von der University of Washington in Seattle. Und diese hat gesagt, dass Stress, ökonomischer Stress, Angst, Zukunftsangst typische Treiber für Selbstmord. Dann würde man sagen, ja dieser Lockdown kann ein Selbstmordtreiber sein, aber, jetzt gibt es eine andere Studie, das ist jetzt erst prospektiv; könnte Covid-19 ein Selbstmordtreiber sein? Zahlen hat man da noch nicht, aber sie haben es dann mit anderen einschneidenden Schockerlebnisse wie 9/11 oder Deepwater Horizon, diese Ölplattform, die ausgelaufen ist nach einem Hurricane, und sie haben etwas ganz Überraschendes festgestellt: Dass nach solchen Ereignissen die Selbstmorde zurück gegangen sind.

Das sind gute News, aber – und jetzt kommt das grosse Aber – die einzelnen Menschen haben trotzdem sehr stark gelitten unter den Ereignissen. Und sie sprechen dann da von einer posttraumatischen Belastungsstörung, welche verschiedene Sachen wie Depression auslösen kann aber auch häusliche Gewalt, Verhaltensstörungen und Alkoholismus. Das haben sie in dieser zweiten Studie, welche ich jetzt zitiere, gesagt, dass man wahnsinnig aufpassen muss, dass man Leute, insbesondere, solche, welche schon ein bisschen gefährdet sind, auch als Einzelmenschen sieht und die brauchen auch Hilfe, dass sie nicht abrutschen und ihre Einsamkeit im Alkohol ersaufen und nachher nicht mehr wegkommen. Zurück zur Frage. Selbstmord könnte sein, aber das Wir-Gefühl sorgt dafür, dass es eher weniger gibt, aber die anderen individuellen Nachteile, unter dem Stichwort posttraumatische Belastungsstörungen, die muss man im Auge behalten und sie schlagen auch einige Massnahmen vor, wie man diesen müsste begegnen.

Jan Vontobel: Was sind das für Massnahmen?

Beat Glogger: Sie schlagen einerseits vor, dass man wirklich ganz aktiv digitale Räume schafft, in welchen man sich treffen kann. Jetzt kann man sagen, das haben wir ja, wir haben ja Facebook, Snapchat und so, aber sie sprechen auch davon, dass es wirklich digitale Räume gibt, in welchen man sich trifft zu diesem Thema, wo es auch strukturiert einen Austausch geben kann. Es gibt solche Sachen auch schon lange bei uns, zum Beispiel die dargebotene Hand, das Sorgentelefon, solche Sachen. Das sind wichtige Massnahmen. Und sie sagen, man muss jetzt schauen, dass die Auffangsysteme für psychische Sachen, dass die auf keinen Fall zurück, sondern eher ausgebaut werden, zusätzliche erste Hilfe Angebote fordern sie.

Katja Rost: Studien, die das vergleichen mit Hurricanes oder 9/11, vernachlässigen meiner Meinung nach einen Aspekt der jetzigen Situation; Corona fordert starke Isolation von den Leuten, das starke Wir-Gefühl, was wir sonst nach Krisen haben in der Gesellschaft, dies sich an einer Schulter anlehnen, gemeinsam mit der Feuerwehr oder was wir erlebt haben oder was wir bei solchen Krisen erlebt haben, das füreinander Einstehe, haben wir nicht. Und was wir eben fehlt aus soziologischer Sicht sind eben soziale Normen, eine verbindliche soziale Ordnung und genau diese Situation führt uns aus soziologischer Sicht zu Zunahmen von Selbstmorden, nämlich dem sogenannten anomischen Selbstmord. Das heisst also, den Leuten fehlt sozusagen jegliches verbindliche Mass an Regeln und sozialer Ordnung, die sonst in der Gesellschaft da sind.

Jan Vontobel: Wenn man nun eine mögliche Gefährdung bei einem Angehörigen oder Bekannten bemerken? Wie kann man da vielleicht auch unterstützend eingreifen?

Katja Rost: Da müssten Sie dann wieder Psychologen fragen, aber woran man das merkt, sind diese typischen Sachen wie Angst, Unzufriedenheit, Orientierungslosigkeit. Aber häufig merkt man es den Leuten auch nicht an. Das haben wir auch in Wirtschaftskrisen. Die sagen dann schön auf Wiedersehen und schmeissen sich vor einen Zug. Das ist natürlich ganz schwierig abschätzbar.

Beat Glogger: Ich darf noch etwas zu diesen Selbstmorden nachführen. In einer Studie vom 10. April, eben diese von der Washington University in Seattle, identifizieren sie eine Bevölkerungsgruppe, eine Berufsgruppe; ältere Menschen, die krank sind und Menschen, welche im Gesundheitssystem arbeiten, und alles geben, und sich aus einer guten Motivation heraus überlasten. Sie sagen, erhöhte Suizidalität bei Leuten im Gesundheitssystem sei durch mehrere Studien belegt und da müssten auch Arbeitnehmer gut schauen – und das war ja deine Frage, Jan – wie muss man diese Menschen auffangen und das ist jetzt auch eine Aufgabe vom Gesundheitssystem, dass ihre eigenen Leute nicht plötzlich sich zu Tode arbeiten. Und dann eben keinen anderen Ausweg mehr sehen. Es ist offenbar in mehreren Studien belegt, dass junge Menschen und Gesundheitssystem auch tätige Menschen, besonders gefährdet sind. Und hier muss man ein Auge draufhaben.

Jan Vontobel: Ich frage mich auch immer, je länger jetzt diese Krise geht, desto stärker werden auch gewisse Ungerechtigkeiten natürlich thematisiert, die es gibt. Zum Beispiel, dass Grossverteiler das ganze Sortiment wieder verkaufen dürfen. Kleinere Läden müssen zwei Wochen länger geschlossen bleiben. Ein Grossverteiler kann Kleider verkaufen. Ein kleines Kleidergeschäft nicht. Es gibt auch grosse Firmen, welche Gewinne ausgeschüttet haben und sich jetzt teilweise mit Kurzarbeit finanzieren. Solche Ungerechtigkeiten ist das auch ein Problem in der Gesellschaft, Frau Rost?

Katja Rost: Ja, das ist ein Problem. Weil natürlich jetzt Fragen nach der Verhältnismässigkeit solcher Massnahmen gestellt werden. Und Sie haben das ja vorher richtig gesagt, dass man bei diesen Leitlinien irgendwo anfangen muss, und dass ist quasi eine politische Vorgabe, die jetzt hier gestellt wird, aber die Frage ist natürlich schon ein bisschen, ich sage nach dem Begründungszusammenhang für politische Entscheidungen und die werden häufig viel zu wenig gegeben, so dass Fragen nach Ungerechtigkeit eben auch auftauchen. Die würden weniger auftauchen, wenn man das Gefühl hätte, da hinterlegen verfahrensgerechte Überlegungen. Jetzt hinsichtlich der politischen Entscheidungsträger und ich finde, das fehlt in allen Ländern.

Beispiel Schweiz: hier hat der Bundesrat gestern entschieden, dass die Primarschulen noch vor den Berufsschulen wieder öffnen dürfen, mit der Begründung man möchte den Kontakt mit den Grosseltern vermeiden und diese Kinder nicht an Covid-19 erkranken. Das hört sich dann in anderen Ländern und in anderen Studien natürlich ganz anders an. Kinder sind genauso so Übertrager der Krankheit. Zudem ist die Kontakthäufigkeit an Primarschulen. Natürlich kann man sagen, so gross wie bei einer Grossveranstaltung. Und hier stellt sich die Frage, was ist dann die Gesamttheorie in der sich solche politischen Entscheidungen eben einordnen lassen, damit also klar ist, das ist eine verfahrensgerechte Lösung, die angestrebt wird, gerecht sozusagen für alle Personen, alle werden behandelt nach den gleichen Regeln.

Jan Vontobel: Also, das heisst, da wäre Kommunikation wichtig. In Deutschland hat die Akademie der Wissenschaft auch die Empfehlung abgegeben, dass man von den Regierungen aus weniger auf Befehle und Anordnungen setzen soll, sondern stärker auf Empfehlungen, Erklärungen und Hintergrund vermittelt. Wäre das ein sinnvolles Vorgehen?

Katja Rost: Auf jeden Fall wäre das ein sinnvolles Vorgehen und vor allen Dingen, wenn man solche Erklärungen anbietet, dass sie in sich konsistent sind.

Jan Vontobel: Könnten Sie uns da ein Beispiel geben? Wie könnte man das so erklären, ein Entscheid, der getroffen wurde?

Katja Rost: Die Grundpfeiler müssen klar sein. Also anhand von was dieser gesamtgesellschaftliche Prioritätenkatalog eben aufgemacht wird. Zum Beispiel man beginnt bei Branchen mit hohem Gebrauchsbedarf wie Baumärkte irgendjemand braucht was, bei verderblichen Produkten, wie Gartencenter, eben als Erstes öffnen, danach geht es also weiter in bestimmte 1:1 – Bereiche wie der Friseur, bei welchem ein hoher Kontakt da ist, das sind aber anscheinend Güter auf die wir nicht verzichten können und das Ansteckungsrisiko ist einem 1:1 Kontakt geringer, das heisst, solche Parameter müssten angesetzt werden, damit das verständlich wird. Und sich eben keiner benachteiligt fühlt und jeder sozusagen, dort festmachen kann, warum die eigene Branche, beispielsweise die Gastronomie, oder eben das Fitnessstudio, jetzt im Gegensatz zum Massagestudio, eben nicht geöffnet wird. Das ist derzeit sehr intransparent.

Jan Vontobel: Und wahrscheinlich müsste man auch klar machen, dass man denen die länger geschlossen bleiben müssen auch wirklich finanziell unter die Arme greift, wenn es Probleme gibt. Nicht nur mit Krediten, welche man -Stand jetzt- zurückzahlen muss, sondern dass man auch Geld behalten kann, weil eben das Restaurant kann danach nicht doppelt so viele Essen verkaufen.

Katja Rost: Das ist so und da müssen die Informationen auch viel besser zusammengeführt werden, da gibt’s ja mittlerweile viele Pakete. Ich erlebe es zurzeit selber anhand der Kompensation zum Beispiel von Eltern, das heisst, wann muss man jetzt Kinderkrippe noch bezahlen, wann nicht, wann bekommt man die Gelder zurück erstattet, wann bekommt man den Urlaub zurück erstattet, da wird sozusagen von einem Tag auf den nächsten die Altersgrenze hochgesetzt, es wird extrem viel derzeit entschieden, aber man muss ich das alles ein bisschen zusammen suchen, diese Informationen und wer, ich sage mal, als erstes informiert ist, sahnt als erstes ab.

Jan Vontobel: Beat Glogger, da ist etwas, was wir immer wieder diskutiert haben: bessere Kommunikation und auch Zusammenhänge erklären.

Beat Glogger: Ich sage, nichts, was der Bundesrat entscheidet, ist grundsätzlich falsch. Aber ich diagnostiziere eigentlich auch ein Kommunikationsmanko. Zu Beginn war Daniel Koch sicherlich der Richtige, dem traut man es zu. Er ist ruhig, er versteht etwas von Gesundheit, er versteht etwas von Infektionen etc. Auch Alain Berset war zu Beginn sicherlich der Richtige. Aber wenn wir uns andere Krisen in der Schweiz, nicht dass wir das riesen Ausmass bis jetzt hatten, aber auch wirkliche Krisen, wie das Swissair Grounding, oder uralt, Überschwemmungen in der Innerschweiz, die es in den 80er Jahren gegeben hat. Da hat man immer jemanden als Kommunikator hingesetzt, welcher nur kommuniziert hat, und einfach nicht entschieden hat. Im Moment sind die, welche entscheiden, auch die welche kommunizieren. Und ich kann dem Bundesrat keinen Rat geben…

Jan Vontobel: Einen Rat kannst du schon geben. Vielleicht hören Sie sich diesen Podcast auch an.

Beat Glogger: Ich möchte sagen, ich bin ja nicht so überheblich. Eigentlich aus kommunikativer Sicht müsste der Bundesrat jetzt einen Chefkommunikator haben oder das BAG. Die müssten in ihrem Krisenstab jemanden haben, der sagt, schaut, ich spreche jetzt mit euch und das eben mehr macht, in der nüchternen Wortkargheit wie Daniel Koch, sondern wie eine Beatrice Tschanz beim Swissair-Grounding, welche auch eine grosse Empathie verströmt und solch eine Figur, finde ich, bräuchte es jetzt, um uns aus diese Krise herauszuführen.

Jan Vontobel: Sehen sie das ähnlich, Frau Rost?

Katja Rost: Das sehe ich ähnlich. Und es ist natürlich eine Herausforderung jetzt, weil man, ich sag mal, in dieser Krise kommunizieren, ich sag mal, Medizinwissenschaften und Ökonomie und Politikwissenschaften und andere Bereich miteinander, und das ist natürlich schon ohne Krise eine schwierige Kommunikation und die muss jetzt ganz, ganz schnell in der Krise geführt werden und das sind Subsysteme die quasi auch in der ganzen Ethik und in der ganzen Gerechtigkeitsvorstellung überhaupt nicht kompatibel sind und die müssen sie jetzt auch ganz, ganz schnell auch theoretisch zusammen führen. Es ist natürlich auch einen Bärenakt. Das muss man auch sehen.

Jan Vontobel: Und haben Sie das Gefühl, dass die Gesellschaft nach dieser Krise, sie wird noch länger dauern, eine andere Gesellschaft ist, dass es nachhaltige Veränderungen geben wird?

Katja Rost: Das glaube ich ja, auf jeden Fall wird es nachhaltige Veränderungen geben. Ich sage mal, wir schlittern jetzt in eine Wirtschaftskrise rein, wie schwer oder weniger schwer, da scheiden sich auch die Ökonomen noch darüber, aber das ist klar, dass das hier eben wirklich eine Krise ist, in die wir reinschlittern und die Arbeitslosigkeit wird höher werden, es wird aber auch, die Globalisierung hat quasi, ich sage mal, einen Stillstand erlitten und wird sicherlich nicht mehr so sein nach der Krise wie vorher. Der Nationalstaat hat an Bedeutung gewonnen. Auch lokale Produktionen haben wieder an Bedeutung gewonnen. Also, was wir hier erleben, ist natürlich ein Shift in verschiedenen Branchen, die vielleicht sogar wieder verstaatlicht werden müssen, wo also der Staat sozusagen eine sehr starke Funktion wieder einnimmt im Gegensatz zu früher.

Jan Vontobel: Kann aber durchaus auch positive Auswirkungen haben, dass man beispielsweise wieder ein bisschen näher zusammenrückt in der Gesellschaft? Wir wollen ja aufs Wochenende hin noch mit einem positiven Punkt schliessen.

Katja Rost: Ich sehe die ganzen Punkte, die ich gesagt habe, sehe ich eigentlich aus soziologischer Perspektive langfristig eher positiv. Ja, Krisen sind sozusagen erstmal etwas Schlimmes, aber sozusagen sie bringen auch Mobilität in Gesellschaft rein, eben genau weil sozusagen sich alles verändert und so eine Durchmischung, Diversität, die ist an sich immer etwas Gutes.

Jan Vontobel: Und natürlich auch, dass man sich das Wissen über Hygiene, über das ganze Thema Virus, ein bisschen ausbreitet. Beat Glogger, das ist sicher auch etwas, was du positiv kannst sehen in der ganzen Krise?

Beat Glogger: Ich glaube auch, wir müssen als Staat, als Gesundheitssystem und als Individuum unsere Lehren aus dieser Corona-Krise ziehen. Eben fürs Individuum wäre es, dass Hygiene wichtig ist. Wieso sage ich das? Denn es wird wieder so etwas passieren. Wir wissen, dass es nur in den Fledermäusen 3000 verschieden Coronaviren hat, wo alle potentiell auf den Menschen überspringen können. Der nächste kann aggressiver sein. Und alle Virologen sagen, es wird und muss passieren. Es ist völlig logisch, dass es passieren wird. Der nächste kann mild, aber er kann auch schlimmer sein. Das heisst, wir müssen jetzt aus dieser Krise lernen. Der Staat muss lernen, dass man zum Beispiel in der Schweiz eine Gesichtsmaskenproduktion brauchen, dass man einen Pandemieplan so aufstellen und ausarbeiten muss, dass man ihn aus der Schublade ziehen kann und übermorgen wirft man die Notmassnahmen an. Dass wir wirklich viel aufmerksamer sind, was da kommen kann.

Und dann kann man dem ganzen Desaster, das wir jetzt erleben, etwas Positives abgewinnen. Wenn die nächste Zoonose, die zu einer Pandemie führt, allenfalls aggressiver ist. Es muss wieder eine geben. Die Evolution will, dass es eine gibt. Das ist völlig klar. Ich sage nicht, das nächste Jahr. Aber es wird wieder eine geben. Wir können und müssen lernen. Und ehrlich gesagt, ich kenne Studenten, da studiert der eine Cousin in San Francisco und der andere Cousin in Australien und wenn sich die beiden am Wochenende in Berlin zu einer Party treffen. Ich finde, der in San Francisco soll dort feiern und der andere mit diesen in Australien. Und ich glaube, solche Dinge könnten wir auch wieder lernen. Das (solche Treffen rund um den Globus) nicht zwingend nötig sind. Und da hätte auch das Klima noch Freude. Wieder lokaler, wie es auch Frau Rost gesagt hat.

Jan Vontobel: Genau und natürlich auch lokale Produkte und Läden unterstützen. Was ja jetzt in dieser Krise auch gross gemacht wird.

Dieser Podcast wurde verschriftlicht von unserem Leser Yves Honegger. Falls du auch Zeit und Lust hast, eine Episode des Coronavirus-Podcasts zu transkribieren – melde dich bei uns via info@higgs.ch. Vielen Dank!

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Im Jahr 2020 produzierte higgs in Kooperation mit Radio 1 einen täglichen Podcast zur Corona-Pandemie. higgs-Gründer Beat Glogger und Radio-1-Chefredaktor Jan Vontobel analysierten das aktuelle Geschehen möglichst unaufgeregt mit Hintergrundinformationen aus der Wissenschaft. Auf Radio 1 wurde die Sendung täglich von Montag bis Freitag nach den 16-Uhr-News ausgestrahlt.
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