Als Podcast anhören

Die Covid-19-Pandemie hat in der Schweiz mittlerweile mehr als doppelt so viele Todesopfer gefordert wie ein starkes Grippejahr. Trotzdem gibt es immer noch Leute, die diese Krankheit mit der Grippe vergleichen. Andere ziehen mit abenteuerlichen Argumenten die Methoden in Zweifel, mit denen der R-Wert berechnet wird, die Übersterblichkeit oder die Zahl der freien Intensiv–Pflegebetten. Und selbst jetzt, wo immer mehr Spitäler um Hilfe rufen und einen erneuten Lockdown fordern, versuchen Laien immer noch krampfhaft, die Experten aus Epidemiologie, Virologie oder Biostatistik zu widerlegen. Für mich persönlich ist das schwer zu ertragen, manchmal fast zum Verzweifeln.

In dieser Situation kommt mir ausgerechnet eine Literaturwissenschaftlerin zu Hilfe. Elisabeth Bronfen, Professorin für englische und amerikanische Literatur an der Universität Zürich, hat soeben ein Buch veröffentlicht: «Angesteckt – Zeitgemässes über Pandemie und Kultur». Damit will sie sich in die aktuelle Diskussion einmischen. Denn diese sei zu sehr von Virologie, Medizin und Ökonomie beherrscht, sagt Bronfen.

Unter anderem befasst sich die Autorin in einem schönen Kapitel mit dem Roman «Die Pest» von Albert Camus. Wenn man «Die Pest» aus dem Jahr 1947 liest, hat man das Gefühl, es sei ein Bericht über Corona 2020. Denn im Roman wie in der Aktualität gibt es Leute, die die deutlichen Anzeichen und das Ausmass der Seuche standhaft ignorieren.

Selbst als die Ratten in Oran aus ihren Löchern kriechen und auf der Strasse verrecken, will der Präfekt der Stadt das nahende Unheil nicht wahrhaben. Auch den ersten Toten mit Pestbeulen nimmt er nicht ernst. Im Roman gibt es Sätze wie «Viele erwarteten jedoch, dass die Epidemie aufhören würde und sie und ihre Familie verschont bleiben würden. Infolgedessen spürte niemand das Bedürfnis, etwas dagegen zu tun.» Das kommt einem doch sehr bekannt vor.

Dieses Nicht-wahrnehmen-wollen beschreibt Elisabeth Bronfen als Mangel an Imagination. Und sie sagt, dass dies in Zeiten von Krisen ein typisches Verhaltensmuster sei. Dies, weil wir zwar Grafiken, Kurven und Statistiken sehen, uns aber schlicht die Vorstellungs­kraft für ein so grosses Unglück fehlt.

Dasselbe Muster erkennt die Amerika-Expertin auch bei George W. Bush um die Jahrtausendwende. Er hatte offenbar vom Geheimdienst viele Hinweise erhalten, die auf einen grossen Terrorakt hindeuteten. Er hat sie ignoriert, weil er sich einfach so etwas Gewaltiges wie die Anschläge auf das World Trade Center in New York nicht vorstellen konnte. Es fehlte ihm an Imagination.

_____________

📬 Das Neuste und Wichtigste aus der Wissenschaft, jeden Dienstag und Donnerstag per E-Mail:
Abonniere hier unseren Newsletter! ✉️

_____________

Auch wir haben anfangs Jahr die Berichte über ein neuartiges Virus in Wuhan als etwas weit Entferntes, Unwirkliches gesehen. Dann überraschte uns die erste Welle. Auch die epidemiologischen Szenarien für eine zweite Welle ignorierten viele – auch Politikerinnen und Wissenschaftler. «Das wird schon nicht so schlimm», kommentierten sie und suchten emsig Belege dafür, dass sie recht hätten. Aber die zweite Welle kam. Und selbst heute nehmen einige die Pandemie noch immer nicht genügend ernst. Weil wir es uns einfach nicht vorstellen können.

Dabei müssten wir nur in die Geschichte und in die Geschichten schauen, sagt Elisabeth Bronfen. Denn in der Literatur sei alles längst beschrieben.

Was mir das denn nütze, habe ich Elisabeth Bronfen gefragt. Was hilft es mir, wenn ich weiss, dass das, was sich heute mit den Corona-Zweiflern abspielt, schon vor über siebzig Jahren in einem Roman beschrieben worden sei?

Es zeige mir, so Bronfen, dass ich nicht der erste sei, der das erlebe. Und dass ich nicht alleine sei. So gesehen ist Literatur nicht einfach eine Ablenkung von der Wirklichkeit, sondern eine Hilfe, diese Wirklichkeit zu verstehen. Ich lerne in den Geschichten Muster menschlichen Verhaltens zu erkennen. Ich lerne, dass Zweifler und Ignoranten zu einer Krise gehören.

Das macht die Pandemie zwar nicht weniger gefährlich, aber es hilft, damit umzugehen. So gesehen, ist Literatur auch Medizin.

Buchtipp

Elisabeth Bronfen: Angesteckt – Zeitgemässes über Pandemie und Kultur.

Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen zeigt anhand literarischer Werke und Pandemie-Thrillern, wie Fiktion uns auf die Coronakrise hätte vorbereiten können. Sie nimmt uns mit auf eine Reise zu Mary Shelley, Albert Camus, Sigmund Freud und Donna Haraway sowie in die Welt von Nosferatu und den Zombies.

Echtzeit Verlag (2020)
ISBN 978-3-906807-18-8

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
Alle Beiträge anzeigen
Diesen Beitrag teilen
Unterstütze uns

regelmässige Spende