Das musst du wissen

  • Meinungsfreiheit ist kein absolutes Recht, das heisst: Es kann unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden.
  • Dies, wenn die Rechte anderer, wie zum Beispiel die Menschenwürde, verletzt werden.
  • Sozialer Druck allein aber gilt nicht als Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Den text vorlesen lassen:

Die «Meinungsfreiheit» muss in der derzeitigen Coronakrise für alles Mögliche und Unmögliche herhalten: Zum Beispiel nachdem einem coronaskeptischen Arzt wegen «schwerwiegender Verletzung der Berufspflichten» die Bewilligung entzogen wurde – er spricht von «Angriff auf die Meinungsfreiheit». Oder wenn Youtube den Kanal eines bekannten Verschwörungstheoretikers sperrt – seine Fans sehen die Meinungsfreiheit bedroht. Und immer wieder nehmen Corona-Skeptiker Bezug auf die 1930er-Jahre und vergleichen die heutigen Regierungen der Schweiz oder Deutschlands mit jener der Nazis. Historisch gesehen ist ein solcher Vergleich haltlos und gefährlich, sagte der Historiker und Geschichtsprofessor Andreas Wirsching im Interview auf higgs.

Doch, wie genau ist Meinungsfreiheit definiert? Und ist sie aktuell tatsächlich in Gefahr? higgs sprach mit einer Verfassungsrechtlerin, einem Medizinethiker und einer Sozialpsychologin über die Definition von Meinungsfreiheit, Youtube-Sperrungen und über sozialen Druck.

Jede Person hat das Recht auf eine eigene Meinung

«Die Meinungsfreiheit schützt ein Grundbedürfnis der Menschen», sagt Maya Hertig, Professorin für Schweizer und europäisches Verfassungsrecht an der Universität Genf. Die Idee der Meinungsfreiheit basiert auf der aufklärerischen Vorstellung, dass wir alle denkende, vernünftige Wesen sind, die ihre Meinung im Dialog bilden. «Für die Demokratie ist die Meinungsfreiheit und auch die Informationsfreiheit wesentlich», sagt Hertig. Das Gleiche gilt für die Forschung: «Fortschritt ist nur möglich, wenn die vorherrschende Meinung in Frage gestellt werden kann.»

Deshalb ist die Meinungsfreiheit ein Menschenrecht. Sie ist unter anderem in Artikel 10 der europäischen Menschenrechtskonvention und in Artikel 19 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte verankert. In der Schweiz wurde das Recht auf freie Meinungsäusserung erst in der Verfassung von 1999 festgeschrieben – aber bereits seit 1959 als ungeschriebenes Grundrecht anerkannt. In der Schweizer Verfassung steht: «Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten.» Und: «Jede Person hat das Recht, Informationen frei zu empfangen, aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen und zu verbreiten.» Laut der Verfassungsrechtlerin Hertig schützt die Meinungsfreiheit sowohl Äusserungen von überprüfbaren Tatsachen als auch von subjektiven Meinungen und Emotionen – zum Beispiel in der Kunst – und symbolische Handlungen – zum Beispiel in Form eines Sitzstreiks. «Geschützt ist der ganze Kommunikationsprozess, vom Verbreiten bis zum Empfangen», so Hertig. Das heisst: Grundsätzlich darf niemand vom Staat daran gehindert werden, seine Meinung zu äussern.

Mann mit grünem T-Shirt ruft etwas mit einem Megaphon an einem öffentlichen Ort.istock/killis

Grundsätzlich darf man seine Meinung frei äussern.

Geschützt ist zudem das Recht, eine Meinung zu haben. Das heisst: Niemand darf einzig aufgrund seiner Gesinnung bestraft oder gezwungen werden, seine Gesinnung aufzugeben. Das Recht, eine eigene Meinung zu haben, wurde beispielsweise während der Ära McCarthy in den USA Ende des Zweiten Weltkrieges verletzt: Vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen mussten verdächtige Bürger ihre politische Gesinnung Preis geben. Wer als «Kommunist» galt, bekam keine Anstellung. Ein aktuelles Beispiel sind die Umerziehungslager in China, in welchen politische Dissidenten und Minderheiten dazu gebracht werden sollen, ihre Gesinnung zu ändern.

«Das Recht, eine Meinung zu haben, ist nicht einschränkbar», erklärt Hertig. So ist es also nicht strafbar, eine rassistische Einstellung zu haben. Rassistische Äusserungen zu verbreiten, hingegen schon.

Die Schranken der Meinungsfreiheit

Maya Hertig wikimedia/Suzy1919

Verfassungsrechtlerin Maya Hertig. (CC BY-SA 4.0)

Denn: Auch der Meinungsfreiheit sind gesetzliche Schranken gesetzt. «Die Freiheit, eine Meinung zu äussern, ist nicht absolut», erklärt Maya Hertig. Ein absolutes Recht ist eines, das niemals eingeschränkt werden kann – auch nicht in aussergewöhnlichen Lagen wie Krieg, Krise oder Pandemie. «Es gibt nur ganz wenige absolute Rechte die uneingeschränkt gelten, zum Beispiel das Folterverbot.» Foltern ist nie erlaubt, weder im Krieg noch im Frieden, und auch nicht, wenn die Informationen, die man durch die Folter zu erlangen erhofft, viele Leben schützen könnten.

Die Meinungsfreiheit aber endet dort, wo andere Schutzgüter wie zum Beispiel die Menschenwürde verletzt werden. Dies gilt bei der Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie dem Holocaust. Doch auch zum Beispiel Verbreitung von Hass gegen einzelne Personen oder Personengruppen ist strafbar.

Laut der Schweizer Bundesverfassung darf die Meinungsfreiheit nur unter vier Bedingungen eingeschränkt werden:

  • Für die Einschränkung muss eine gesetzliche Grundlage vorhanden sein, damit die Bürger klar wissen, was erlaubt ist und was nicht. In der Schweiz sind diese Bedingungen unter anderem im Strafgesetzbuch festgelegt. Beispielsweise verbietet die Rassismus-Strafnorm den Aufruf zu Hass gegen Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung. «Dabei geht es um schwerste Formen von Hass-Rede», sagt Hertig, die Vize-Präsidentin der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ist. «Das sind Äusserungen, die ganze Gruppen als Untermenschen betrachten. Das ist nicht vereinbar mit den Grundwerten einer demokratischen Gesellschaft, die auf den gleichen Wert aller Menschen baut.»
  • Es muss ein legitimes Eingriffsinteresse bestehen. Das können die Rechte anderer sein, also zum Beispiel der Persönlichkeitsschutz oder der Schutz der Privatsphäre. Oder es handelt sich um ein öffentliches Interesse wie die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit.
  • Der Eingriff in die Meinungsfreiheit muss verhältnismässig sein. «Man darf nicht mit Kanonen auf Spatzen schiessen», fasst Hertig zusammen. «Harsche Sanktionen wie Gefängnisstrafen bei Ehrverletzungen schiessen in der Regel über das Ziel hinaus.» Sehr hohe Geldstrafen sind ebenfalls problematisch: Wenn also zum Beispiel ein Teilnehmer einer nicht bewilligten Demonstration, an der es zu keinen Ausschreitungen und zu keinem Sachschaden kommt, eine hohe Busse bezahlen muss.
  • Der Eingriff darf den Kerngehalt der Meinungsfreiheit nicht verletzen. Eine systematische, vorgängige Inhaltskontrolle von Medien zum Beispiel würde die Kommunikationsfreiheit aushöhlen und in ihrem Kern treffen.

Youtube darf Regeln setzen

Während der Corona-Pandemie haben sich Fälle gehäuft, in denen grosse Internetportale wie Youtube Beiträge wegen Falschaussagen löschten. Ist das eine Einschränkung der Meinungsfreiheit? Theoretisch schon, sagt Maya Hertig. Aber: «Die Meinungsfreiheit schützt nur vor Eingriffen durch den Staat, sie bindet nicht direkt private Akteure wie Youtube», sagt Maya Hertig. Anders gesagt: Klagen kann man gestützt auf die Meinungsfreiheit nur gegen den Staat, nicht gegen Private.

Auch das Zensurverbot richtet sich in erster Linie gegen den Staat. In der Bundesverfassung ist unter «Medienfreiheit» festgehalten, dass Zensur generell verboten ist. Zensur bezieht sich hier vor allem auf systematische vorgängige Inhaltskontrolle. Wenn also zum Beispiel jeder, der etwas zu Corona publizieren wollte, es vorgängig dem Bundesamt für Gesundheit vorlegen müsste. Zensur kann sich aber auch auf systematische Nachkontrolle beziehen, also wenn zum Beispiel das Internet durchforstet und Beiträge nachträglich systematisch gelöscht würden. Dies ist aktuell aber nicht der Fall, also kann im Sinne der Bundesverfassung nicht von staatlicher Zensur gesprochen werden.

Bei Youtube und anderen Kanälen handelt es sich um private Anbieter, die nicht direkt an das verfassungsrechtliche Zensurverbot gebunden sind. Ihnen ist also freigestellt, was sie auf ihrer Plattform dulden wollen – und was nicht. Nur: «Der Staat muss geeignete Massnahmen treffen, um die Meinungsfreiheit gegen Einschränkungen durch Private zu schützen», so Hertig. Das gilt auch im Internet und dort haben gewisse Plattformen mittlerweile eine Monopolstellung: «Youtube und andere soziale Medien sind heute wesentlich, damit sich Bürgerinnen und Bürger in eine Debatte einbringen können», sagt Hertig.

Der Schutz der Meinungsfreiheit im Netz ist allerdings schwierig zu gewähren, weil die Firmen ihren Sitz häufig im Ausland haben und einseitige staatliche Regulierungen zu einer rechtlichen Fragmentierung führen. Darum seien international einheitlichere Regeln und mehr Transparenz dringend, sagt Hertig. «Es muss klar sein, was warum wegkommt». Das kann auch durch überstaatliche Initiativen geschehen. So haben grosse IT-Konzerne, darunter Facebook und Youtube, eine Vereinbarung mit der EU getroffen, Meldungen von Hassrede innerhalb von 24 Stunden zu prüfen. Ausserdem gibt es einen Codex im Umgang mit Desinformation. Hier handelt es sich aber lediglich um Bekenntnisse der Unternehmen, also um Selbstregulierung.

Löschen von Falschnachrichten bringt wenig

Von Gesetzen, welche das Löschen von Falschnachrichten vorschreiben, hält die Verfassungsrechtlerin Hertig aber nichts. Rechtlich gesehen ist es nicht grundsätzlich verboten, falsche Fakten zu verbreiten. Auch es sei teilweise schwierig zu definieren, was die «Wahrheit» sei. Und in manchen asiatischen Ländern werde zum Beispiel unter dem Vorwand von Fake-News staatliche Zensur betrieben. «Es gehört ein Stück weit zu einer Demokratie, dass auch unliebsame Inhalte sichtbar sind», sagt sie.

Als Beispiel führt sie ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus den 90er-Jahren an: Damals kam eine Studie zum Schluss, dass Mikrowellen, mit denen das Essen aufgewärmt wird, gesundheitsschädigend seien. Ein Schweizer Industrievertreter verklagte den Forschenden mit der Begründung, das sei rufschädigend und nicht erwiesen, da die meisten anderen Studien zu anderen Ergebnissen gekommen waren. Das Gericht aber urteilte: Auch diese Minderheitenmeinung muss man zulassen. Eine Aussage, ob der Inhalt der Studie korrekt war, war das Urteil aber nicht. Es ging lediglich darum, dass man den Forschenden nicht verbieten kann, solche Ergebnisse zu publizieren. Das Gericht hielt fest: «Es spielt keine Rolle, ob die Meinung, um die es geht, eine Minderheitenmeinung ist oder gar jeglicher Grundlage entbehrt: In einem Bereich, in dem hundertprozentige Gewissheit unwahrscheinlich ist, wäre es übertrieben, die Meinungsfreiheit auf die Wiedergabe generell akzeptierter Ideen zu beschränken.»

Florian StegerUniversität Ulm

Medizinethiker Florian Steger.

«Je diverser das Meinungsbild, desto besser geht es der Demokratie», ergänzt Florian Steger. Er ist Medizinethiker und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Zuhören sei ein notwendiger Akt des demokratischen Prozesses. Eine echte Lösung des Problems Falschinformation sei Löschen ohnehin nicht, denn «die Meinung bleibt in den Köpfen». Viel besser wären seiner Ansicht nach Bürgerdialoge und transparente Kommunikation. «Gerade in einer Pandemie wie dieser ist die Evidenzbasis oft unzureichend und die Regierungen müssen aus Vorsicht agieren.» Diese Wissenslücken seien zu benennen – auch wenn Unwissen für viele Menschen schwierig zu ertragen sei.

Wenn Beiträge gelöscht würden, sagt Steger, werde es ganz generell gefährlich. «Man darf nur löschen, was den Staat im Innersten erodiert. Und für solche Löschungen sind Polizei und Gerichte zuständig.» Konkret: Wenn die Kernzellen der Demokratie mit Gewalt bedroht würden, wie im Fall des Sturms auf das Kapitol, dann sei die Grenze des Sagbaren erreicht.

Wer Meinungsfreiheit beansprucht, muss auch Kritik in Kauf nehmen

Einige Corona-Skeptiker und Massnahmenkritiker beklagen, dass sie wegen ihrer Meinung angefeindet oder als «Corona-Leugner» bezeichnet würden und deshalb die Meinungsfreiheit ausgehöhlt werde. Hierzu sagt Maya Hertig: «Wer eine kontroverse Meinung äussert, muss auch zugespitzte Meinungen der Gegenseite aushalten. Es gehört dazu, dass man dann rhetorisch angegriffen wird. Es gibt kein Recht, nicht kritisiert zu werden.» Auch hier gab es einen ähnlichen Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Ein slowenischer Politiker äusserte sich abfällig über Homosexualität. Daraufhin bezeichnete ihn ein Journalist in einem Artikel als Idioten («cerebral bankrupt»). Das Gericht urteilte 2014, dass der Politiker, wenn er so eine kontroverse Meinung äussere, auch mit harter Kritik umgehen müsse.

Ein weiteres Argument von Corona-Skeptikern: Es herrsche ein gesellschaftliches Klima, in dem keine abweichende Meinung geäussert werden dürfe. So schreibt zum Beispiel das Web-Portal Rubikon, das Verschwörungstheorien nahesteht: «Versuchen Sie einmal, im Freundes- und Familienkreis die Gefährlichkeit von Covid-19 zu ‘leugnen’. Versuchen Sie, den Sinn und Zweck des Impfens in Frage zu stellen. Es kann sein, dass Sie so aggressiven Gegenwind ernten, dass Sie beim nächsten Mal lieber stumm bleiben.» Anders zu denken sei sozial geächtet und Meinungsfreiheit damit de facto nicht möglich. «Meinungsfreiheit braucht natürlich ein gewisses gesellschaftliches Klima», sagt Hertig. «Wenn ein Klima herrscht, das zu Selbstzensur führt, ist das ein Problem.» Dazu gehören Gewalt und Drohung, Entlassungen, aber auch vehemente verbale Angriffe auf Andersdenkende. «Shitstorms» können da laut Hertig ebenfalls ein Problem darstellen. Nur sehen sich oft jene als Opfer, die den eigentlich aggressiven Part einnehmen: «Häufig wird der gesellschaftliche Druck zu ‘politcal correctness’ übertrieben dargestellt und das führt zu einer Opfer-Täter-Umkehr: Opfer ist der weisse Rassist, nicht der mit Hassrede konfrontierte Schwarze.»

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Soziale Kontrolle und ihre Rolle in der Pandemie

Drohungen gegen Wissenschaftler und Politiker haben während der Pandemie zugenommen – von Gewalt und Drohung gegen Corona-Skeptiker hingegen ist zumindest in der Schweiz nichts zu spüren. Jede und jeder kann seine Meinung frei äussern und an Corona-Demonstrationen teilnehmen. Ob aber das soziale Umfeld der Rebellen deswegen Freudensprünge aufführt, ist eine andere Frage. «Wenn Corona-Skeptiker sich eingeschränkt fühlen, etwas zu sagen, liegt das häufig nicht an eingeschränkter Meinungsfreiheit, sondern an sozialer Kontrolle», sagt Urte Scholz, Professorin für Angewandte Sozial- und Gesundheitspsychologie an der Universität Zürich. Wenn manche Corona-Skeptiker also die Meinungsfreiheit bedroht sehen, können sie damit höchstens den sozialen Druck meinen, der es erschwert, eine Abweichende Meinung zu äussern.

Urte ScholzzVg

Sozialpsychologin Urte Scholz.

Mit sozialer Kontrolle versuchen Menschen, ihre Mitmenschen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. «Soziale Kontrolle findet grundsätzlich statt, ob wir das wollen oder nicht», erklärt Scholz. «In einem sozialen Miteinander passiert sie, weil wir aufeinander reagieren.» Und gerade in einer Pandemie könne soziale Kontrolle häufiger sein, weil sie durch die offiziellen Verhaltensempfehlungen und -regeln legitimiert sei.

Doch: Es gibt verschiedene Wege, soziale Kontrolle auszuüben. Manche führen beim Gegenüber zu positiven Gefühlen, andere zu negativen. So kommt es durch Bestrafung, Nörgeln, Liebes- oder Freundschaftsentzug oder durch das Erzeugen eines schlechten Gewissens bei den «kontrollierten» Personen zu Scham oder Ärger. In Studien zu sozialer Kontrolle in Bezug auf das Gesundheitsverhalten bei Paaren fanden Urte Scholz und ihr Team heraus, dass diese negativen Strategien wenig bringen. Sie konnten keinen Zusammenhang feststellen zwischen «negativer» sozialer Kontrolle und einem gesünderen Verhalten. Im Gegenteil: Die kontrollierten Personen machten häufig gerade nicht das, was ihre Partner erwarteten – entweder demonstrativ oder heimlich. Dieses Reaktionsmuster nennt sich Reaktanz.

Science-Check ✓

Studie: How Do People Experience and Respond to Social Control From Their Partner? Three Daily Diary StudiesKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Stichproben sind nicht sehr gross. Die Resultate der Studien können Hinweise geben, müssen durch weitere Forschungen aber bestätigt werden.Mehr Infos zu dieser Studie...

Anders reagierten jene Personen, die mit positiven Strategien der sozialen Kontrolle konfrontiert waren. Zu den positiven Strategien gehören Diskutieren, Verhandeln, Überreden, das Aufzeigen von Vorteilen des angestrebten Verhaltens, der Verweis auf positive Beispiele und Komplimente. Übte der Partner solche positiv erlebte soziale Kontrolle aus, änderten die «kontrollierten» Personen ihr Verhalten eher und fühlten sich besser.

Negative soziale Kontrolle, wie sie gegenwärtig in der Öffentlichkeit zum Beispiel durch böse Blicke oder schroffes Zurechtweisen vorkommt, sei zwar in einer Pandemie nicht unüblich. Doch: «Unter Umständen reagieren manche Menschen dann eben gegenteilig: Sie sehen eine Diktatur am Werk und weigern sich, die Massnahmen einzuhalten.» Diese Menschen fühlten sich bevormundet, widersetzten sich und versuchten, ihre Autonomie wieder herzustellen.

Die Forschungsresultate von Urte Scholz zeigen: Positive Strategien sozialer Kontrolle wäre auch während der Pandemie wünschenswert. Das hiesse: Mit Corona-Skeptikern in Dialog treten, sich austauschen, andere Meinungen zulassen und ein Verhalten nicht über Druck oder negative Emotionen ändern wollen. Wenn jemand ohne Maske im Tram sitzt, könnte man zum Beispiel sagen: «Für mich wäre es wichtig, dass Sie eine Maske tragen, weil ich mich dann wohler fühle.» Oder: «Sie haben die Maske bestimmt vergessen, das ist mir auch schon passiert.» Oder dem anderen eine frische Maske anbieten. Sind solche Versuche nicht naiv und zum Scheitern verurteilt? «Ob das Gegenüber auf ein solches Angebot eingeht, hängt stark vom sozialen Kontext ab», so Scholz. Einen Versuch sei es aber wert – und allemal besser, als ihn schlicht einen «Idioten» zu nennen.

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