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Im Nachhinein wissen es alle besser. Oder zumindest viele. Die Schweiz hätte Corona auch mit weniger strengen Massnahmen in den Griff gekriegt, sagen sie. Oder: Man hätte schon früher – oder schneller – öffnen können.
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Als eines der Hauptargumente dient die Tatsache, dass schon vor der dem Lockdown die Reproduktionszahl des Virus unter eins lag. Dass die Zahl der Neuinfektionen schon zurückging und der Lockdown somit unnötig war. Diese Argumentation ist aus zwei Gründen nicht zulässig.

Punkt eins. Der Kampf gegen die Corona-Pandemie hat nicht erst mit dem Lockdown begonnen. Am 28. Februar verbot der Bundesrat Grossveranstaltungen, am 2. März machte das Bundesamt für Gesundheit auf die Hygiene- und Verhaltensregeln aufmerksam. Am 13. März wurden die Schulen geschlossen. Somit begannen die Menschen in der Schweiz bereits vor dem Lockdown vom 17. März ihr Verhalten anzupassen. Das spiegelt sich in den Infektionszahlen.

Schon vor dem Lockdown sanken die Infektionen am Arbeitsplatz, im öffentlichen Verkehr und beim Shoppen. Aber sie stiegen weiter in der Familie und in Parks. Bis zum Lockdown stiegen auch die Infektionen in Lebensmittelläden. Danach sanken sie rasch.
Das sind Belege für die Wirksamkeit der Massnahmen und des Lockdowns.

J. Lemaitre et al.

Trotzdem frage viele – und die Frage ist legitim: War das wirklich nötig?

Damit kommen wir zu Punkt zwei: Dass Menschen an Vorsichtsmassnahmen zweifeln, wenn sie wirken, ist normal. Man spricht vom so genannten Präventionsparadoxon. Dass die Leute – wenn alles vorbei ist – sagen, es sei gar nicht nötig gewesen, habe ich schon im Faktist vom 27. März vorausgesagt.

Das Präventionsparadoxon kennt man bei vielen Risikodiskussionen: Zum Beispiel bei der Frage, wie man sich gesund ernährt oder ob man im Auto Sicherheitsgurte tragen soll. Die Liste der Beispiele ist endlos.

Wenn die Prävention wirkt, bleibt das mögliche Unheil aus, und einige ziehen die Vorsichtsmassnahmen in Zweifel.

Aber es gibt auch den umgekehrten Effekt: Man betreibt Prävention ohne Beweise, dass sie tatsächlich wirkt. Zum Beispiel mit Nahrungsergänzungsmitteln oder Super Food. Kürbiskerne gegen Prostatavergrösserung, Muschelkalk gegen Arthrose, Omega-3-Fettsäuren, Aroniabeeren und so weiter.

Ob diese Dinge tatsächlich wirken, ist nicht bewiesen, oder wenn, dann ist die Wirkung bloss gering.

Warum schwören so viele auf nicht unbedingt wirksame Prävention – und warum misstrauen ebenso viele der Corona-Prävention? Die Antwort ist einfach. Super Food gönnt man sich, teure Super-Beeren leistet man sich. Die Prävention macht Spass. Also muss es ja wirken.

Die Corona-Prävention hingegen hat uns Verzicht abverlangt. Das ist unangenehm. Man hat keine Lust auf noch mehr von dieser Prävention. Darum zweifelt man sie an – obwohl der Lockdown nachweislich gewirkt hat.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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