«Neuer Anschlag in Kabul… Psychische Störungen nehmen mit der Pandemie zu… Historische Brände in der Provence… Dürre und Hungersnot in Madagaskar… Coronavirus: Was man uns nicht sagt… UFOs die Wahrheit… Klima: Worst-Case-Szenarien… Polizeigewalt… ruiniert… hingerichtet… vergewaltigt…»

Es ist halb zwei Uhr morgens, und die Nachrichten trudeln unter immer fieberhafteren Fingern ein. Alles ist schlecht oder alarmierend, bis hin zur Übelkeit, bis an den Rand des Abgrunds. Das ist Doomscrolling, ein Wort, das 2018 auf Twitter auftauchte und sich aus den Wörtern «doom» (Untergang, Fall, Strafe) und «scrolling» (Bildschirm scrollen) zusammensetzt.

Kein Platz für Zufälle

Und wenn es dieses Phänomen gibt, dann nur, weil es jemand so haben wollte. Zum Beispiel Aza Raskin. Im Jahr 2006, im Alter von 22 Jahren, erfand der Sohn des Schöpfers der grafischen Benutzeroberfläche von Apple den unendlichen Bildlauf, der die Registerkarte «Nächste Seite» am unteren Ende der Bildlauflisten auf dem Smartphone überflüssig machte.

Es ist das Glas, das sich von unten her – kontinuierlich – füllt und den gesamten Planeten umspannt. Das junge Wunderkind, das sich heute reumütig gegen süchtig machende Technologien einsetzt, erklärte letztes Jahr gegenüber einem Team von France Télévisions, dass seine Erfindung «die Menschheit täglich das Äquivalent von 200.000 Menschenleben kostet». Es ist seine eigene Berechnung, und Aza Raskin findet das Ergebnis «erschreckend». So sehr, dass er an einem Verfahren arbeitet, das den Lesefluss beim Blättern auf den Seiten verlangsamt.

So viel zum Thema Scrollen.

Und was ist mit dem Untergang? Wie inzwischen jeder wissen sollte (aber sagen wir es oft genug?), werden soziale Netzwerke von künstlichen Intelligenzen gesteuert, die schnell verstehen, wer wir sind und uns Inhalte anbieten, die uns interessieren sollen. Aber der Mensch ist nun einmal so beschaffen, dass ihn schlechte Nachrichten interessieren – in den Medien wird auch nicht über Züge berichtet, die pünktlich ankommen.

Die Leugner der digitalen Technologie

Aza Raskin ist nicht die einzige Silicon Valley-Grösse, die sich auf die Seite der Reumütigen stellt. In einem Artikel aus dem Jahr 2018 mit dem nüchternen Titel «Ihr Smartphone macht Sie dumm, unsozial und krank, warum können Sie es nicht aufgeben?» listet die kanadische Tageszeitung Globe and Mail einige weitere auf.

Sean Parker, ehemaliger Präsident von Facebook, gab zu, dass das weltweit beliebteste Netzwerk so konzipiert wurde, dass es die Nutzer mit Dopaminausschüttungen, dem berühmten «Lusthormon», lockt. «Wir haben eine Schwachstelle in der menschlichen Psychologie ausgenutzt, wir haben sie verstanden, und wir haben es trotzdem getan.»

Chamath Palihapitiya, ein weiterer ehemaliger Facebook-Manager, sagte, er fühle sich «schrecklich schuldig», weil «wir alle wussten, dass etwas Schlimmes passieren könnte». Diese kurzfristigen Rückkopplungsschleifen, die wir geschaffen haben und die von Dopamin gespeist werden, zerstören die Funktionsweise der Gesellschaft: kein zivilgesellschaftlicher Diskurs, keine Zusammenarbeit, Fehlinformationen und Unwahrheiten. Heute sagt er, er tue alles, was er könne, um seine vier Kinder so weit wie möglich von digitalen Technologien fernzuhalten.

Tristan Harris, ehemaliger Star-Produktmanager bei Google, ist einer derjenigen, die in ihrer Reue am weitesten gegangen sind. Er hat die letzten Jahre damit verbracht, die Menschen aufzufordern, die Technologien, die er selbst mitentwickelt hat, weniger zu nutzen. Er tat das via Time Well Spent, eine Organisation, die er 2015 gegründet und drei Jahre später in das Center for Humane Technology umgewandelt hatte, an dessen Spitze man wiederum Aza Raskin, den Erfinder von Infinite Scroll, findet.

«Es ist einfacher, Menschen zu erschrecken, als sie zum Lachen zu bringen», bestätigt Niels Weber, Psychotherapeut in Lausanne und Spezialist für Hyperkonnektivität. «Es ist einfacher, Nachrichten mitzuteilen, die einem Angst und uns wütend machen. Wir geben sie auch weiter, um unsere eigenen Ängste abzubauen.»

Ein Beispiel ist die Panik, die die Verbraucher zu Beginn der Pandemie wegen einer möglichen Verknappung von Toilettenpapier und anderen lebenswichtigen Gütern ergriff. In einem Artikel auf theconversation.com über das Coronavirus und die sozialen Netzwerke heisst es: «Es brauchte nur ein paar weit verbreitete Bilder von leeren Regalen, damit die Leute losstürmten und kauften, was übrig war.»

Wir wurden darauf aufmerksam gemacht, dass der französische Journalist und Regisseur JK Raymond Millet schon 1947 einen erstaunlichen Dokumentarfilm über die Zukunft des Fernsehens gedreht hat, der auf einer Kurzgeschichte von René Barjavel basierte. Visionär?

Ist es ernst?

Natürlich geht es nicht nur um Doomscroller. Der übermässige Konsum von Bildschirmen aller Art ist ein altes und gut dokumentiertes Phänomen, das mit dem Fernsehen beginnt, sich mit dem Computer und der Spielkonsole fortsetzt, sich mit dem Smartphone und dem Tablet verstärkt und das mit der durch die Pandemie auferlegten Beengtheit explodiert ist. Aber ist es eine Krankheit?

«Bis heute gibt es keine allgemeingültige Definition oder etablierte Diagnose für Praktiken, die oft als problematische Internetnutzung bezeichnet werden», antwortet Monique Portner-Helfer, Sprecherin von Sucht Schweiz, dem nationalen Kompetenzzentrum in diesem Bereich.

Sie ergänzt, dass «zu den Inhalten, die als besonders riskant gelten, weil sie das Belohnungszentrum im Gehirn aktivieren, Glücksspiele und Videospiele gehören». Diese beiden Kategorien sind die einzigen, die in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation aufgeführt sind.

Mit anderen Worten, nur Gamer und zwanghafte Gamer werden als krank anerkannt. Ist Doomscrolling, das an sich noch sehr wenig erforscht ist, also risikofrei? Das ist nicht so einfach.

Niels Weber, der regelmässig an Präventionskampagnen teilnimmt und in den Schulen des Kantons Waadt Vorträge hält, sieht darin «einen der Faktoren, die zu psychischem Unwohlsein beitragen». Und selbst wenn «der Schaden nicht unbedingt messbar ist, kann die Person, die sich selbst in dieser Blase von beunruhigenden Nachrichten einschliesst, schnell den Eindruck gewinnen, dass alles schief läuft. Das ist das grosse Risiko, wenn man sich nur in sozialen Netzwerken informiert».

Für den Psychotherapeuten zählt jedoch nicht in erster Linie die am Bildschirm verbrachte Zeit, sondern das, was man dort tut, vor allem, wenn dies auf Kosten anderer Aktivitäten geht. «Die Fachleute sind sich heute einig, dass die Anwendungen die Ursache für den Kontrollverlust sind und nicht das Medium selbst», bestätigt Monique Portner-Helfer von Sucht Schweiz.

Sind wir alle Junkies?

Ist Doomscrolling, und allgemeiner gesagt, sich in «eine Blase einzuschliessen, die uns den Eindruck vermittelt, dass die ganze Welt so denkt wie wir», eine süchtig machende Droge?

«Das ist nicht vergleichbar», erklärt Niels Weber. Es gibt einen physiologischen Unterschied. Bei Drogen, Tabak oder Alkohol gewöhnt sich der Körper an ein Molekül, das er nicht braucht, während der Bildschirm keine Stoffe abgibt. «Es handelt sich also nicht um eine körperliche Abhängigkeit, sondern um ein suchterzeugendes Verhalten.»

Sucht Schweiz führt regelmässig Umfragen zur Gesundheit von Jugendlichen im Schulalter durch. Die letzte Untersuchung, die sich auf Bildschirme, das Internet und soziale Netzwerke konzentrierte, wurde 2018, also vor der Pandemie, abgeschlossen. Sie ergab, dass mehr als die Hälfte der 11- bis 15-Jährigen mehrmals täglich oder «fast den ganzen Tag» online chatten. Eine Überraschung ist das nicht. Im Zug, im Bus, beim Spaziergang im Park oder zuhause in der Familie – es ist leicht zu erkennen, dass der durchschnittliche Teenager fast immer ein Smartphone in der Hand hat.

Ja, aber was ist mit den Erwachsenen? Niels Weber weiss aus eigener Anschauung: «Die Eltern machen sich Sorgen um ihre Kinder, aber sie sehen ihren eigenen Konsum nicht. Was die jungen Leute betrifft, so erstarren sie, wenn man sie als Süchtige bezeichnet. Süchtig? In der Umfrage von Sucht Schweiz 2018 gaben nur vier Prozent einen problematischen Konsum zu.»

Das Reich der Verleugnung

Scrolling-Süchtige sind weder Alkoholiker noch Junkies, aber sie haben wie diese Schwierigkeiten, ihre Sucht zu erkennen.

Im Jahr 2015 baten britische Psychologen eine Gruppe von Nutzern zu schätzen, wie oft sie an einem Tag auf ihr Telefon schauen. Damals waren es noch 150 Mal – eine Zahl, die sich seitdem mehr als verdoppelt hat. Nun, die Schätzungen der Leute waren durchweg halb so hoch wie die tatsächliche Zahl.

Es gibt immer einen Grund, das Handy herauszuholen: für die Arbeit, um einem Freund zu antworten, weil man gerade eine Benachrichtigung erhalten hat, um die Langeweile zu vertreiben oder um «schnell etwas zu überprüfen» – etwas, das zu etwas anderem führen wird, mit einer schnellen Überprüfung, die eine Stunde gedauert hat. Aber es war notwendig, wir haben etwas gelernt, wir hatten Spass, wir haben unsere Zeit nicht verschwendet. «Man hat immer den Eindruck, dass das, was man macht, besser ist als das, was andere machen», sagt Niels Weber.

Und wenn es halb zwei Uhr morgens ist und der nächste Tag anstrengend wird, gibt es sogar Anwendungen, die beim Einschlafen helfen. Ein Unsinn für den Psychotherapeuten: «Der Bildschirm ist anregend, er hilft nicht beim Einschlafen».

Übrigens: Hat sich Niels Weber schon einmal beim zwanghaften Scrollen erwischt? «Exzesse gab es bei mir nicht, aber habe ich auch schon feststellen müssen, dass ich das Internet nun etwas zu lange konsultiert habe. Ich wende dann das Mantra an: genug Internet für heute!»

Monique Portner-Helfer sagt, sie sei «nicht sehr oft in sozialen Netzwerken», weil sie »Probleme mit diesem Typ Nachrichten hat, in denen sich die Leute über etwas empören». Und selbst wenn sie «regelmässig die Fotos anderer Leute im Status auf WhatsApp anschaut», findet sie diese «eigentlich ziemlich überflüssig».

Was hat France Gall 1984 gesungen? Ah ja, «Débranche» – Verbindung trennen!

Diese seltsamen neuen Manien

In seinem Buch La civilisation du poisson rouge (Die Zivilisation des Goldfisches) weist der französische Journalist Bruno Patino auf die abnehmende Aufmerksamkeitsspanne der Menschen hin, die zu sehr mit ihren Smartphones verbunden sind. Und listet eine Reihe neuer Phobien auf, die diese Werkzeuge hervorgebracht haben.

Athazagoraphobie – die Angst, von Gleichaltrigen vergessen oder ignoriert zu werden. Diese emotionale Abhängigkeit ist mit dem ständigen Schreiben von SMS verbunden.

Nomophobie – Die Angst, ohne Mobiltelefon zu sein. Diese Zusammenziehung von «kein Handy» und «Phobie» beschreibt die Panik, die manche Menschen empfinden, wenn sie ihr Gerät nicht dabei haben.

Phubbing – Das Ignorieren von Menschen, die physisch anwesend sind, indem man auf sein Telefon schaut, anstatt mit ihnen zu kommunizieren. Der Name setzt sich aus den Wörtern «phone» und «snubbing» – also Telefon und brüskieren – zusammen.

Phantom-Vibration – Das Gefühl, das Telefon vibrieren oder klingeln zu hören, wenn es nicht aktiv ist.

Zombiewalking – der Begriff beschreibt das Gehen auf der Strasse mit dem ständigen Blick aufs Mobiltelefon. Eine Praxis, die für Fussgänger nicht ohne Risiko ist.

Dieser Text erschien zuerst bei swissinfo.
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