Das musst du wissen

  • Zur Frage der Gerechtigkeit eines Krieges gibt es ethische Kriterien. Der Angriffskrieg auf die Ukraine erfüllt keines.
  • Soldaten im Krieg müssen sich an das Kriegsvölkerrecht halten, für Verstösse können sie verurteilt werden.
  • Sobald sich die Zivilpersonen in den Kampf einmischen, verlieren sie rechtlich gesehen ihren Schutzstatus.
Den Text vorlesen lassen:

Herr Messelken, ist der Krieg in der Ukraine ethisch gerechtfertigt?

Die kurze Antwort ist nein.

Und die lange?

Wenn man in der Ethik über die Rechtfertigung von Kriegen nachdenkt, dann gibt es eine lange Tradition, die sogenannte Theorie des «gerechten Krieges» – oder wie ich sie auch nenne, jene des «ungerechten Krieges». Denn eigentlich lässt sich nach dieser Theorie kaum je ein Krieg rechtfertigen. Darin gibt es eine Reihe von Kriterien zu den beiden Fragen, wann Krieg begonnen werden darf und wie Krieg geführt werden muss. Wenn wir uns diese Kriterien in Bezug auf die Ukraine anschauen, dann sehen wir, dass sie nicht erfüllt werden.

Was sind das für Kriterien?

Als erstes braucht es einen rechtfertigenden Grund für den Kriegsbeginn: in erster Linie, dass man selber angegriffen worden ist. Angriffskriege sind damit nie legitim. Wenn wir Russland – for the sake oft the argumentzugestehen würden, dass es bestimmten Volksgruppen im Osten der Ukraine zu Hilfe kommen will – was ich selber sehr skeptisch sehe – dann wäre dieses erste Kriterium allenfalls erfüllbar. Aber nur bezogen auf den Donbas, und nur, wenn dort wirklich vor dem Angriff systematische Angriffe auf Teile der Bevölkerung verübt worden wären. Denn das zweite Kriterium ist die richtige Absicht, also dass mit der Waffengewalt keine anderen Ziele verfolgt werden dürfen, als sie der rechtfertigende Grund vorgibt. Doch nach allem, was wir von Wladimir Putin gehört haben und nachdem Kämpfe auch in anderen Regionen der Ukraine stattfinden, geht es eindeutig um mehr als nur den Donbas. Als drittes muss eine rechtmässige Instanz den Krieg erlauben. Darunter verstehen wir heute meist die Vereinten Nationen. Weil eine der Vetomächte aber selber am Krieg beteiligt ist, ist der Sicherheitsrat blockiert. Ein Ausweg ist dann die UN-Vollversammlung, die sich im aktuellen Fall eindeutig gegen den Krieg positioniert hat. Das vierte Kriterium in der Tradition des gerechten Krieges ist, dass es keinen anderen Ausweg aus dem Konflikt gibt und alle anderen diplomatischen Wege versucht wurden. Auch das ist im Ukrainekrieg nicht gegeben. Schliesslich muss ein «gerechter» Krieg als Ganzes verhältnismässig zum Grund sein, was angesichts des in den ersten zwei Wochen bereits erzeugten Leids und Schadens – oder gar des angedrohten Einsatzes von Atomwaffen – ganz klar nicht der Fall ist.

Daniel Messelken

Daniel Messelken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich und leitet das Fachzentrum ZH Militärmedizinethik, welches im Auftrag des Kompetenzzentrums Militär- und Katastrophenmedizin betrieben wird.

Wie haben es also mit einem ungerechten Krieg zu tun – die Soldaten haben aber dennoch das Recht, zu kämpfen?

Im Völkerrecht beziehungsweise in der Genfer Konvention sind Angriffskriege verboten. Aus dieser Gemäss Völkerrecht beziehungsweise der UN-Charta sind Angriffskriege verboten. Aus dieser Perspektive ist der Krieg völkerrechtswidrig. Innerhalb des Krieges sind die Soldaten beider Seiten gemäss der Genfer Konventionen aber gleichgestellt, dürfen sich also gegenseitig bekämpfen und letztlich töten. Das ist die Unlogik des Völkerrechts.

Darf grundsätzlich jeder Soldat jeden anderen Soldaten im Krieg erschiessen?

Nur, wenn es aus militärischer Sicht notwendig ist. Einen sich ergebenden, wehrlosen oder verletzten Soldaten darf man nicht beschiessen, nur weil er Soldat ist. Gleiches gilt für die Zivilbevölkerung, diese ist grundsätzlich geschützt.

Nun hat die ukrainische Regierung die Bevölkerung aber zu einem Guerilla-Krieg aufgerufen. Was ist mit diesen kämpfenden Zivilisten?

Zivilisten sind nur solange geschützt, wie sie sich aus dem Kampf raushalten. Sobald sie sich an der Kampfhandlung beteiligen, verlieren sie juristisch gesehen ihren Schutzstatus. Der Aufruf der Regierung alleine reicht dazu aber noch nicht aus. Und auch hier gibt es eine gewisse Schwelle, die überschritten werden muss. Wenn sich jemand einem Panzer in den Weg stellt und ruft: «Hau ab!», dann reicht das sicher nicht. Aber wenn jemand anfängt, Molotowcocktails zu werfen oder zur Waffe greift, dann ist die Beteiligung schwer abzustreiten.

Völkerrechtlich wäre der Soldat, der diesen Zivilisten erschiesst, also unschuldig, aber moralisch?

Ob das völkerrechtlich ganz so eindeutig ist, weiss ich nicht, denn das Beschiessen muss ja ein notwendiges militärisches Mittel und die Gewalt proportional zum Angriff sein. Aus ethischer Sicht stellt sich die Frage noch etwas anders. Nach der klassischen Tradition des gerechten Krieges sind für Soldaten in erster Linie zwei Dinge relevant: Sie dürfen nur militärische Ziele angreifen und die Mittel, die sie einsetzen müssen verhältnismässig sein. In den neueren philosophischen Debatten zum gerechten Krieg werden nun aber immer eine gerechte und eine ungerechte Seite unterschieden. Theoretisch, und in sehr vielen Fällen auch in der Realität, wissen wir, wer auf welcher Seite steht. Diejenigen, die auf der ungerechten Seite kämpfen, haben demnach keine Legitimation Gewalt anzuwenden. Und dürfen sich entsprechend eigentlich auch nicht mal verteidigen.

Ist das nicht eine Frage der Perspektive?

Nein, es gibt Kriterien dafür, welche Seite im Krieg gerechtfertigt ist und welche ungerechtfertigt kämpft ist.

Welche?

Das ist analog wie bei der individuellen Selbstverteidigung. Wenn wir beide uns auf der Strasse begegnen, können Sie nicht einfach auf mich schiessen und sagen, es war Selbstverteidigung. Dafür müssten Sie belegen, dass ich eine Waffe gezogen habe. Oder einen anderen guten Grund zur Annahme haben, dass ich Sie gleich angreife und Sie keinen anderen Ausweg haben als Selbstverteidigung. Das Gefühl einer Bedrohung würde nicht ausreichen. Spielt man ein solches Szenario durch, ist klar, dass nicht beide Seiten gleichberechtigt sein können, sondern nur eine angreift.

Im aktuellen Kriegsfall ist Russland also der Angreifer und die Ukraine das Opfer.

Nach allem, was wir bisher wissen, ist es nicht besonders schwierig festzustellen, wer wen zuerst angegriffen hat, zumal Russland die Ukraine auch auf der Krim 2014 angegriffen hat, beziehungsweise damit einen Teil der Ukraine völkerrechtswidrig annektiert hat.

Wenn man sich die Meldungen über mögliche Kriegsverbrechen anschaut, betreffen diese bisher nur Russland. Kann die Ukraine im eigenen Land gar kein Kriegsverbrechen begehen?

Theoretisch schon, doch. Sie könnten beispielsweise auch zivile Ziele wie die russische Bevölkerung im Osten der Ukraine angreifen oder in Kauf nehmen, dass zivile Ziele beschädigt werden. Die Wahrscheinlichkeit auf eigenem Boden Kriegsverbrechen zu begehen ist aber kleiner, da die ukrainischen Truppen Hemmungen haben, zivile Ziele im eigenen Land anzugreifen. Aber auch der Einsatz von Giftgas oder das Erschiessen von Kriegsgefangenen wären zum Beispiel Kriegsverbrechen.

Wenn der Krieg eigentlich so klar geregelt ist, wieso muss man dann trotzdem Hilfskorridore verhandeln?

Weil es eben nur theoretisch geregelt ist, und in der Realität dann doch die Zivilbevölkerung angegriffen wird. Das hängt auch damit zusammen, dass sich ein Grossteil des Konfliktes in städtischen Gegenden abspielt. Das ist ganz anders als die klassischen Schlachten im Mittelalter, wo sich die Armeen auf einem Feld gegenüberstanden. Auch wenn Bomben heutzutage noch so gezielt abgeworfen werden, wird es dabei immer zivile Opfer geben. Da müssen wir uns nichts vormachen, alles andere wäre gar unrealistisch. Auch die Nato hat zivile Opfer erzeugt, als sie im Jugoslawienkrieg Belgrad bombardierte und gleiches gilt für die Einsätze im Irak und Afghanistan.

Den «idealen» Krieg gibt es also nur in der Theorie.

Das würde ich so sehen, ja. In der Praxis kann es den idealen Krieg gar nicht geben. Wobei ich mir nicht einmal sicher bin, ob es ihn in der Theorie gibt. Denn selbst dem idealen Krieg geht ein Verstoss rechtlicher und moralischer Grundsätze voraus. Ähnliches gilt für die Gerechtigkeitsfrage: Grundsätzlich glauben wir, dass Kriege oder der Einsatz militärischer Gewalt legitimiert werden könnten. In der Realität kann es diese Situation aber kaum geben, weil Krieg so unkontrollierbar ist, dass er nie vollständig gerecht sein kann.

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