Das musst du wissen

  • Alle Sexualstraftäter chemisch kastrieren und so von Verbrechen abhalten – was einfach klingt, ist keine Lösung.
  • Denn meistens ist nicht der Trieb, sondern sind die Neigungen und Fantasien der Täter das eigentliche Problem.
  • Zudem können Studien die Wirksamkeit nicht einwandfrei belegen. Trotzdem gibt es in der Schweiz chemisch Kastrierte.

Die sollte man alle kastrieren! Mit solch markigen Worten drückt manch einer den Wunsch aus, wie man mit pädosexuellen Straftätern und Vergewaltigern umgehen solle. Was auf den ersten Blick logisch scheint – nämlich Männer, die durch das Ausleben ihrer Sexualtriebe andere Menschen verletzen oder töten, eben dieser hormonell gesteuerten Triebe zu berauben – ist auf den zweiten Blick nicht so einfach.

Kein rein physisches Problem

«Wenn wir Kastration im Giesskannenprinzip bei allen Sexualstraftätern anwenden, handeln wir uns Probleme ein. Denn gewisse Personen macht dies gerade noch aggressiver», warnt etwa Soziologe Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW. «Es ist schlicht ein Irrglaube, dass hinter sexuellen Gewalttaten nur hormonelle Probleme stecken. Nein, dazu gehören zwanzig, dreissig Jahre voller Geschichten, die dazu geführt haben, dass diese Menschen auf Kinder stehen. Oder besonders aggressive Sexualpraktiken zu mögen. Es ist fast schon absurd zu meinen, das Problem sei allein physisch zu lösen.»

In der Schweiz ist die sogenannte chemische Kastration von Sexualstraftätern gesetzlich erlaubt. Dabei nimmt der Mann ein Mittel, das die Produktion von Sexualhormonen unterdrückt oder deren Wirkung senkt. Laut Artikel 434 des Zivilgesetzbuches wäre es hierzulande theoretisch sogar möglich, Straftäter dazu zu zwingen, aber: «Das kommt nicht zu Anwendung», sagt Baier. Die chemische Kastration wird zwar durchgeführt, allerdings nur bei Männern, die willens sind, sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen, und die selbst diese Behandlung wünschen

Artikel 434 – Zwangsmassnahme theoretisch möglich

ParagraphiStock

Der Artikel im Zivilgesetzbuch, der eine von Ärzten angeordnete chemische Kastration ohne Einwilligung des Täters theoretisch möglich macht, lautet unter dem Titel «Medizinische Massnahmen bei einer psychischen Störung» wie folgt:

Art. 434
II. Behandlung ohne Zustimmung

Fehlt die Zustimmung der betroffenen Person, so kann die Chefärztin oder der Chefarzt der Abteilung die im Behandlungsplan vorgesehenen medizinischen Massnahmen schriftlich anordnen, wenn:
1. ohne Behandlung der betroffenen Person ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden droht oder das Leben oder die körperliche Integrität Dritter ernsthaft gefährdet ist;
2. die betroffene Person bezüglich ihrer Behandlungsbedürftigkeit urteilsunfähig ist; und
3. keine angemessene Massnahme zur Verfügung steht, die weniger einschneidend ist.

Auch die freiwillige Einnahme der Mittel für die chemische Kastration ist äusserst selten. Gemäss Jérome Endrass vom Zürcher Amt für Justizvollzug bewegt sich die Anzahl Inhaftierter, die einer solchen Behandlung unterzogen werden, in seinem Kanton derzeit im einstelligen Bereich. In anderen Kantonen sieht es ähnlich aus: So nimmt im Kanton Bern auch nur eine Anzahl Inhaftierter im einstelligen Bereich solche Medikamente zu sich und im Aargau gibt es keine solchen Fälle.

Astreine Motivation verlangt

Psychologin Monika Egli-Alge therapiert seit Jahrzehnten pädosexuelle Straftäter und nicht straffällige Pädophile. Auch sie geht von ein bis zwei Prozent der straffällig gewordenen Pädosexuellen und Vergewaltiger aus, die sich chemisch kastrieren lassen. Was dabei passiert, erklärt die Leiterin des unabhängigen Forensischen Instituts Ostschweiz Forio so: «Die Medikation wirkt nicht auf die Präferenz selber, nicht auf die Fantasie, sondern nur auf den Sexualtrieb. Also bildlich gesprochen: Die Kastration wirkt nicht zwischen den Ohren, sondern zwischen den Beinen.»

Wie der Trieb geschwächt werden kann

StrukturformelWikimedia Commons

Strukturformel des Testosterons, dessen Wirkung bei einer chemischen Kastration gesenkt oder blockiert wird.

Zur Abschwächung der Libido gibt es drei typische Gruppen von Wirkstoffen: Die Antiandrogene, die durch Blockierung der Testosteronrezeptoren die Wirkung des männlichen Geschlechtshormones senken. Und die LHRH-Hemmer, welche die Produktion des Testosterons drosseln. Im Volksmund werden beide Varianten chemische Kastration genannt. Daneben gibt es noch die selektiven Serotoninwiederaufnahmerhemmer SSRI, die Antidepressiva mit triebdämpfender Wirkung sind, und bei manchen die Triebe etwas dämpfen, bei anderen aber nicht.

Quelle: schicksal-und-herausforderung.de

Die Psychologin begleitet derzeit wenige Inhaftierte, die chemisch kastriert sind. Diesen Männern helfe die Medikation, denn: «Der Triebdruck geht weg.» Die Situation in Gefangenschaft kombiniert mit dem Medikament führe dazu, dass Sex für diese Männer irgendwann keine Rolle mehr spiele. Egli-Alge räumt aber ein, dass chemische Kastration nur in Einzelfällen angezeigt sei, nur bei einer «astreinen Motivation». Dazu gehöre ein grosses Leiden am eigenen Sexualtrieb. Ausserdem müssten zunächst mildere Möglichkeiten versucht worden sein. Sie erklärt: «Wir haben einige nicht straffällige Betroffene bei uns in Behandlung, die depressiv sind und Antidepressiva nehmen. Diese haben auch einen moderat Libido-hemmenden Effekt. Viele sagen, dass sie das als angenehm empfinden. Weil es dem Trieb die Spitze nimmt.»

Würde man die chemische Kastration dagegen auch in weniger klaren Fällen anwenden, könne das fatal sein, denn: Ein Täter, der wegen der Medikamente kaum noch eine Erektion bekomme, geschweige denn diese halten oder einen Orgasmus bekommen könne, brauche dann immer stärkere Fantasien und eben auch Handlungen, um so weit zu kommen.

Obwohl Baier wie Egli-Alge betonen, dass die chemische Kastration nur ganz selten das beste Mittel ist, um die Gefahr zu bannen, die von einem Täter ausgeht, sind beide überzeugt, dass sie bei wenigen Personen Teil der Lösung sein kann. Die Therapeuten bei Forio etwa würden diese Möglichkeit bei allen Betroffenen zunächst mitdenken, sagt Egli-Alge. Die Anwendung setze aber immer enge therapeutische Betreuung und Kontrolle voraus. Baier vergleicht die Situation mit Menschen, die eine psychische Erkrankung haben. Neben der Einnahme von Medikamenten würden auch diese intensiv therapeutisch begleitet.

Das forensische Institut Ostschweiz Forio arbeitet eng mit dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité zusammen. In diesem Beitrag von followmereports erfährst du, wie dort junge pädophile Männer therapiert werden.

Wissenschaftlich wenig haltbar

Spricht man mit den für Sexualstraftäter zuständigen Experten, könnte der Eindruck entstehen, die chemische Kastration sei eine Art psychologische Hilfe für die Täter: Sie müssen damit weniger unter ihren Trieben leiden und finden eher zu innerer Ruhe. Diese Hilfe wiederum hat auch einen besseren Schutz der Gesellschaft zu Folge: Wer unter den richtigen Voraussetzungen chemisch kastriert ist, begeht demnach nämlich keine Straftaten mehr.

Nicht immer wurde die Kastration von Straftätern vor allem unter den Gesichtspunkten Hilfe für die Täter und Schutz der Gesellschaft betrachtet. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde die chirurgische Kastration, sprich die Entfernung der Hoden, hierzulande noch als Quasi-Sanktion angewendet, wie es der Berner Historiker Urs Germann 2014 in der Studie «Entmannung oder dauerhafte Verwahrung?» feststellte. Die geradezu archaische Massnahme gab den Justizbehörden damals ausserdem Spielraum, ermöglichte etwa gar frühere Entlassungen aus dem Gefängnis. Das ist heute nicht mehr so, wie Dirk Baier betont. «Die chemische Kastration allein führt in der Schweiz nicht zu einer Kürzung der Haftstrafe. Hierfür ist vielmehr die Prognose des zukünftigen Verhaltens entscheidend.»

Kastration, Sterilisation und Entartung

Auguste ForelWikimedia Commons

Auguste Forel gilt als Vater der Psychiatrie und zierte die alte Tausendernote. Er hat am Zürcher Burghölzli die ersten Kastrationen und Sterilisationen veranlasst.

Die Schweiz gehörte zu den Pionieren in der Anwendung der Kastration als sogenannte eugenische Massnahme, also zwecks Verhinderung der Fortpflanzung von als entartet geltenden Menschen. Der bekannte Psychiater Auguste Forel wandte die Methode schon Ende des 19. Jahrhunderts an, um «unglückliche Nachkommen» zu verhindern. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts konnten Ärzte allerdings stattdessen den Eileiter- oder den Samenleiter durchtrennen, eine Verbreitung des als unerwünscht geltenden Erbgutes also mittels weniger schweren Eingriffe stoppen. Nun wurde die Kastration hierzulande vor allem noch zur Verringerung des Sexualtriebes angewendet, wobei fast nur Männer im Fokus standen. Davon waren allerdings bis in die Siebzigerjahre auch homosexuelle Männer betroffen. Und Männer, welche zwar mit minderjährigen Frauen geschlafen hatten, die aber nur wenige Jahre jünger waren als sie selbst. Beide Gruppen hatten Straftaten begangen, die unter den heutigen gesetzlichen Bedingungen keine mehr sind.

Auch die nationalsozialistische Hetzjagd auf kranke Menschen hat Wurzeln in der Schweizer Medizin. Der schweizerisch-deutsche Psychiater und Rassenhygieniker Ernst Rüdin, der 1917 Abteilungsleiter in der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München wurde, war Schüler von Auguste Forel gewesen und hatte schon früh gefordert, dass beispielsweise Alkoholiker sterilisiert werden. Und er stellte in Frage, dass es sinnvoll sei, wenn der Staat Behinderte finanziere. Rüdin war massgeblich am deutschen «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» beteiligt, das 1933 nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten beschlossen wurde. Das Gesetz wirkte. In der Zeit des Dritten Reiches waren schätzungsweise 360 000 bis 400 000 Menschen zwangssterilisiert worden, über 6000 starben infolge von Komplikationen bei der Operation.

Quelle: Urs Germann: «Entmannung» oder dauerhafte Verwahrung? und Spiegel

Doch steht die selten angewendete Massnahme, die am Stammtisch gerne gefordert wird, wenn ein Pädosexueller aufgeflogen oder eine Frau brutal vergewaltigt worden ist, überhaupt auf festem wissenschaftlichen Boden? Untersuchungen zur Wirksamkeit der chemischen Kastration kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen, wie eine Übersichtsstudie vom vergangenen Jahr im Rahmen evidenzbasierter Kriminalprävention in Deutschland aufzeigt.

Laut der Autoren lassen zwar manche Studien erhoffen, die chemische Kastration verhindere Rückfälle, andere aber warnen davor. Und wieder andere kommen zum Schluss: Sie hat schlicht keinen Einfluss auf die Rückfallquote. So heisst es im Fazit der Übersichtsstudie, dass «bis heute keine methodisch belastbaren Studien vorliegen, die eine kriminalpräventive Wirksamkeit belegen.» Es scheine fraglich, ob die derzeit bei (potentiellen) Sexualstraftätern eingesetzten Medikamente überhaupt eine Wirkung entfalten, die über den Placebo-Effekt hinausgingen. Und damit sei auch fraglich, ob die Gefahr, dass der so behandelte Mann zum ersten Mal oder erneut eine Verbrechen begeht, mit den Mitteln entscheidend reduziert werden könne. Man müsse auch die Verhältnismässigkeit im Auge behalten, da es zu möglicherweise nicht mehr rückgängig zu machenden Nebenwirkungen kommen könne. Man vermutet ausserdem, dass der Einsatz chemischer Kastration «eher als Beruhigungsmittel für Entscheidungsträger diene.»

Passendes Argument für Populisten

Die deutsche Historikerin Annelie Ramsbrock beschäftigt sich unter anderem mit der Geschichte der Kastration. In Deutschland ist gemäss einem heuer 50 Jahre alten Gesetz sogar die chirurgische Kastration auf freiwilliger Basis noch erlaubt. Ramsbrock vertritt die These, dass die Beibehaltung des Gesetzes sowie die gesamten Verschärfungen im Sexualstrafrecht auch Ausdruck eines gewissen Populismus sind.

Dazu passt, dass die medikamentöse Zwangskastration in Polen 2009 und in Mazedonien 2014 eingeführt wurde. Und in Tschechien wird die chirurgische Kastration als Bedingung an Freilassungen geknüpft. Zwar müssen die Patienten den Eingriff selbst beantragen, «der Druck sei jedoch enorm», wie der Anti-Folter-Ausschuss des Europarates 2011 feststellte. Derselbe Ausschuss hat auch Deutschland wegen der per Gesetz noch immer möglichen chirurgischen Kastration angeklagt und der Regierung empfohlen, diese Praxis einzustellen. Eine Empfehlung, der Deutschland gemäss Ramsbrock bisher unter anderem wegen politischem Kalkül nicht gefolgt ist.

Auch in der Schweiz spielen manche Kreise auf diesem populistischen Instrument. So hat etwa SVP-Politiker Pierre Rusconi vor sechs Jahren ein Postulat zur Einführung chemischer Kastration bei rückfällig gewordenen Pädophilen und Vergewaltigern eingereicht. Der Bundesrat legte in seiner Antwort damals mit ähnlichen Argumenten wie in diesem Beitrag dar, warum eine automatische chemische Kastration keinen Sinn macht.

Soziologe Dirk Baier ist optimistisch, dass die radikale Massnahme hierzulande nicht zum erfolgreichen Vehikel für populistische Attacken gegen Justiz und Rechtspolitik wird. «Die Schweiz ist davor gefeit. Was den Strafvollzug betrifft, ist sie immer sehr wissenschaftsgetrieben.»

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