Katharina Ley, wie ist das Thema Versöhnung zu einem Ihrer Schwerpunkte geworden?
Ich habe kurz nach dem Ende der Apartheidszeit drei Jahre lang in Südafrika gelebt und dort in einer Traumaklinik gearbeitet, während mein Mann in Johannesburg das DEZA-Büro leitete. Nelson Mandela ist in dieser Zeit nach 27 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden, ist auf den damaligen weissen Präsidenten de Klerk zugegangen und hat gesagt, wir müssen zusammenarbeiten, sonst können wir dieses Land nicht retten. Er hätte hunderttausend Gründe gehabt, de Klerk ein Messer in den Bauch zu stossen oder Ähnliches, aber er wusste, das bringt nichts. Er ist auf den «Feind» zugegangen und hat ihm die Hand gegeben. Für mich ist er ein leuchtendes Vorbild und der Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Thema Versöhnung. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz habe ich ein Buch dazu geschrieben. Auch in der Schweiz gibt es einen enormen Versöhnungsbedarf in Familien und Gesellschaft.

«Ja, es braucht den Entschluss, aus der unglücklichen Verkettung mit dieser Person herauszuwollen, frei sein zu wollen»Katharina Ley

Wann ist eine Versöhnung angezeigt?
Der Wunsch nach einer Versöhnung entsteht meist daraus, dass man sich in seiner Ablehnung, Wut oder seinem Hass an die betreffende Person, die einen verletzt hat, angebunden fühlt. Man will diese Kette von sich werfen und frei werden, denn das bindet viel Energie und Lebenskraft, schränkt einen bei der Partnerwahl ein usw.

Braucht es eine bewusste Entscheidung dafür?
Ja, es braucht den Entschluss, aus der unglücklichen Verkettung mit dieser Person herauszuwollen, frei sein zu wollen. Oft wünscht eine Seite mehr als die andere, dass ein solcher Prozess in Gang kommt. Die andere ist vielleicht einverstanden damit, aber es kommt auch vor, dass jemand nichts von einer Versöhnung wissen will. Dann muss der versöhnungswillige Mensch einen anderen Weg finden, mit dem Problem zurechtzukommen.

Man kann sich auch einseitig versöhnen?
Manchmal geht es nicht anders. Wenn jemand schon verstorben ist oder unverhofft stirbt, dann muss man sich einseitig aus einer belasteten Beziehung befreien. Sonst bleibt man womöglich in einer Opferrolle gefangen, was gar nicht gut ist.

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Wie stark ist man bei einer zweiseitigen Versöhnung auf die Kooperationsbereitschaft des anderen angewiesen?
Zu mir kam einmal eine Frau in Therapie, die enorm unter ihrer Mutter litt. Sie war der Meinung, die Mutter habe ihr ein glückliches Leben schier verunmöglicht. Ich habe ihr geraten, die Mutter doch einfach mal mitzubringen. Als dann beide bei mir in der Praxis waren, riet ich der Tochter, der Mutter alles, was sie mir erzählt hatte, genauso zu erzählen. Das hat sie getan und die Mutter hat mit grossen Ohren zugehört. Als die Tochter fertig war, sagte sie, dass sie das alles nicht gewusst habe. Dass ihr nicht bewusst gewesen sei, dass die Tochter sie als so dominant und bösartig erlebe und so unter ihr leide. Sie hat dann ihre eigene Geschichte erzählt, von ihrer Herkunft und ihrem Aufwachsen, das ganz ähnlich gewesen war wie das ihrer Tochter. Dabei hat dann diese sehr genau zugehört. Die beiden wussten davor einfach vieles nicht von der anderen. Doch die eigene Leidensgeschichte auf den Tisch zu legen ist schon wichtig. Aber oft auch schwierig – da ist es gut, wenn eine dritte, neutrale Person moderiert.

Haben Sie das oft erlebt, dass in einer Beziehung eine Person sehr leidet und die andere sich gar nicht bewusst ist, dass ein Konflikt besteht?
Das kommt sehr oft vor, ja. Ich persönlich hatte eine schwierige Mutterbeziehung – das war auch noch ein Grund, dass ich ein Buch über Versöhnung schreiben wollte. Meine Mutter hat mich ständig runtergemacht und wollte mich in eine Hausfrauenrolle drängen. Als ich ihr mein fertiges Buch überreichte, meinte sie nur, dass seien die Probleme meiner Klientinnen und Klienten, mich betreffe das ja nicht.

Oje!
Sie hat leider nicht verstanden. Später ist sie leicht dement geworden und gleichzeitig milder und versöhnlicher. Sie hatte Freude, wenn ich sie im Pflegeheim besuchte, und ich konnte sie dadurch quasi aus ihrer Schuld entlassen. Meine Geschwister, die natürlich mitbekommen hatten, wie unempathisch die Mutter zu mir gewesen war, haben sich gewundert, dass ich sie trotzdem regelmässig besuchte. Doch für mich hat es gestimmt. Die Hauptsache war, dass wir einander wahrgenommen haben, wir keinen Streit mehr hatten, sie hat mich nicht mehr entwertet. Irgendwann ist sie einfach davongeschwebt. Es war kein eigentlicher Versöhnungsprozess, der zwischen uns geschehen ist, aber das Resultat ist für mich dasselbe. Ich habe mich von ihrer Dominanz gelöst und konnte sie bis zum Schluss würdigen. Hätte ich den Kontakt zu ihr abgebrochen, hätte das alles nicht passieren können und ich wäre vielleicht immer noch an sie gebunden.

Familien sind sehr anfällig für Konflikte.
Klar, je näher man einander ist, desto grösser das Risiko. Familien sind geradezu prädestiniert dafür. Sowohl zwischen den Eltern als auch zwischen Eltern und Kindern. Oft beginnt es mit einer Entscheidung, etwa die Wahl der Freunde oder die Berufswahl der Kinder, die am Anfang eines langen Konfliktes steht. Die Mehrheit der Konfliktfälle, denen ich in meiner Praxis begegnete, waren Eltern-Kind-Konflikte.

«Oft musste ich gar nicht viel tun oder sagen, wenn zwei die Versöhnung wirklich wollten»Katharina Ley

Manchmal scheitert eine Versöhnung nicht am Willen der beteiligten Parteien, sondern an den Fähigkeiten.
Ich habe in meiner Praxis solche Fälle erlebt. Einmal sind drei erwachsene Geschwister zu mir gekommen, die sehr unter ihren Eltern litten. In einer Sitzung, an der die Eltern teilgenommen haben, formulierten die Kinder, was ihnen so zu schaffen macht. Doch die Eltern wollten von alldem nichts wissen und haben nur darüber gesprochen, wie schwierig sie es selbst gehabt hätten im Krieg. Sie haben nur davon gesprochen und stur darauf beharrt, dass ihre Kinder keine Ahnung hätten, wie schlimm das damals gewesen sei, und wie sehr sie gelitten hätten. Wie es ihren Kindern geht, wollten sie nicht hören, und sie sind dann aus der Praxis hinausgelaufen. Das war zum Glück das einzige Mal, dass mir jemand davongelaufen ist. Mir haben die Kinder sehr leidgetan. Sie wären offen gewesen für eine Versöhnung, aber die Eltern wollten nur Genugtuung für das, was sie erlebt hatten. Und diese konnten die Kinder ihnen nicht geben.

Manchmal ist es wohl auch einfach schwierig, zielführend miteinander zu reden, wenn man zerstritten ist.
Ich habe selten erlebt, dass eine Versöhnung am bösen Willen eines Menschen scheiterte, meistens war es eher ein Nicht-Können. Oder man ist dermassen tief in einen Streit verstrickt, dass es eine dritte Person braucht, die die Übersicht behält. Das kann den Beteiligten eine Freiheit geben, die sie in der Enge davor nicht hatten. Wichtig ist, dass man der neutralen Person zutraut, dass sie den Konflikt schlichten kann, das macht schon viel aus. Oft musste ich gar nicht viel tun oder sagen, wenn zwei die Versöhnung wirklich wollten. Das Dreieck an sich ist schon beruhigend und offener, als es ein Gespräch zu zweit manchmal ist.

Ist eine Versöhnung auch nach Gewalt- und Missbrauchserfahrungen möglich?
Ich habe einige Fälle erlebt von Vätern, die ihre Töchter missbraucht hatten, aber später nichts mehr davon wussten. Es gibt den psychischen Prozess der Abspaltung, den man mit gesundem Menschenverstand eigentlich gar nicht verstehen kann. Doch es kann tatsächlich sein, dass ein Täter durch diese Abspaltung nicht mehr weiss, was er getan hat. Dann bleibt nur noch der einseitige Prozess. Vielleicht war ein solcher Vater selbst ein Opfer und konnte gar nicht anders. Manchen gelingt es, sich zu sagen, dass ihnen etwas Schlimmes zugestossen ist, das sie als Teil ihres Lebens akzeptieren, und sich dadurch davon befreien zu können.

Haben Sie viele einseitige Versöhnungsversuche begleitet?
Einige, ja. Mir kommt die Geschichte einer Frau in den Sinn, deren Mann sich in jemand anderes verliebte und sie darauf verliess. Die Frau sagte dann irgendwann zu mir, dass sie das unterdessen akzeptieren könne, sich aber noch einen Abschluss wünsche, eine Feier zur Beendigung der Beziehung. Doch sie hat auch verstanden, dass ihr Ex-Mann an einem ganz anderen Punkt stand und eine solche Feier deshalb nicht wollte. Die Frau hat dann mit ihren Freundinnen den Beginn ihres neuen Lebens gefeiert – nicht als Opfer, sondern als die, die es überstanden hat.

Und dann gibt es auch noch die Konflikte, die unversöhnt enden.
Dass Kinder den Kontakt zu den Eltern abbrechen, oder auch umgekehrt, kommt ab und zu vor. Bei mir war einmal eine Frau, die hatte mit ihrem Mann zusammen eine Bäckerei geführt und diese nach der Pensionierung an eines der drei Kinder übergeben. Sie war der Meinung, die anderen beiden Kinder angemessen finanziell abgegolten zu haben, doch diese sehen das anders und haben den Kontakt zu den Eltern abgebrochen. Ich habe ihr geraten, allen drei Kindern für den eigenen Seelenfrieden einen Brief zu schreiben, in dem sie ihre Sicht der Dinge darlegt. Dass sie der Überzeugung sei, alle drei gerecht behandelt zu haben, und hoffe, mit einem friedlichen Herzen älter werden und sterben zu können.

Muss eine Versöhnung immer sein?
Das Kriterium ist für mich, ob jemand am Unversöhnten leidet. Wenn ja, sollte man zumindest den Versuch unternehmen. Wenn sich jemand trotz ungelöstem Konflikt frei fühlt und im Leben reüssiert, dann kann das schon ok sein. Erzwingen kann man eine Versöhnung jedoch niemals.

Bücher von Katharina Ley


Katharina Ley: Versöhnung lernen, Versöhnung leben
Patmos Verlag, Düsseldorf, 2009.
220 Seiten, Fr. 26.90.
ISBN 978-3-491-40143-3.

Katharina Ley: Anders älter werden – So gelingen die besten Jahre
Fischer und Gann Verlag, Munderfing, 2016.
158 Seiten, Fr. 24.90.
ISBN 978-3-903072-32-9.

Dieser Beitrag erschien erstmals im doppelpunkt.
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