Es braucht schon eine globale Pandemie, um uns einmal bewusst zu machen, wie enorm wichtig körperliche Nähe für Menschen eigentlich ist. Nun, da der Austausch von Berührungen auf ein Minimum beschränkt werden sollte, fehlt diese Nähe plötzlich.
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Vielleicht liegt es auch daran, dass dies einer der wenigen Bereiche ist, wo moderne Technologie keine Abhilfe schaffen kann. Räumliche Distanzen können wir heute zwar bequem überwinden: Die Liebsten am anderen Ende der Welt zu sehen, zu hören und mit ihnen zu sprechen, das erlaubt die Videotelefonie. Jemanden zu liebkosen – das ist indes eine andere Geschichte. Nicht, dass es nicht versucht worden wäre. Einige Forschende tüfteln daran, eine Umarmung via Internet zu ermöglichen: Der Umarmende kann dabei mit den Fingern Druck auf ein kleines Gerät ausüben, welchen der Empfänger durch eine Jacke, die er anzieht, zu spüren bekommt. Wie nahe das allerdings einer echten Umarmung kommt, ist zweifelhaft.
Die Berührung erforschen
In anderen Forschungsfeldern wurde der Tastsinn dagegen lange stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht: Ohne Augenlicht kann man sich zu einem gesunden Erwachsenen entwickeln, ohne Gehör ebenfalls. Ohne Berührungen hingegen nicht. Das belegten die berüchtigten Experimente des Psychologen-Ehepaars Harlow an Rhesus-Äffchen schon in den 1950er Jahren: Die Wissenschaftler schufen zwei Mutterattrappen: Bei der einen handelte es sich um ein karges Drahtgestell, sie belieferte die Baby-Äffchen mit Milch. Die andere war «weich, warm und sanft, eine Mutter mit grenzenloser Geduld, eine Mutter, die 24 Stunden am Tag verfügbar ist, eine Mutter, die niemals mit ihrem Kind schimpft und ihr Baby niemals aus Wut schlägt oder beisst». Eine ultimative Mama also – nur bot sie den Kleinen keine Nahrung. Im Experiment zeigte sich, dass die Affen-Babys lediglich zur Nahrungsaufnahme die Draht-Attrappe besuchten, in der übrigen Zeit kuschelten sie sich lieber an die Stoff-Attrappe. Andere Affen-Babys isolierten die Harlows ersatzlos von ihrer Mutter. In der Entwicklung der Jungtiere zeigte sich der Mangel an echter Mutter-Kind-Interaktion durch schwere Störungen wie etwa aggressives Verhalten.
Bei Menschen hängen fehlende Berührungen offenbar auf ähnliche Weise mit Aggressivität zusammen. In einer anderen Studie verglich eine Psychologin das Verhalten von amerikanischen und französischen Jugendlichen in einem McDonald’s-Restaurant. Das Resultat: Die amerikanischen Jugendlichen küssten, streichelten, umarmten sich weniger oft. Dafür berührten sie sich häufiger selber und zeigten aggressives Verhalten, sowohl sprachlich als auch körperlich.
Wie oft eine Person eine andere liebevoll berührt, ist unter anderem eine Frage der Kultur. Sie ist aber auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hängt von mehreren Faktoren ab. Bisher nahmen die meisten Sozial- und Verhaltenswissenschaftler an, dass die Menschen erlernen, sich zu berühren, um Zuneigung auszudrücken. Dass also die Umwelt und Kultur die entscheidende Rolle dabei spielt. Unsere Erfahrungen prägen unser Verhalten fraglos. Doch eine erst kürzlich erschienene Studie belegt, dass dies nicht der einzige Einflussfaktor ist. Bei Frauen mischt auch die Genetik mit: Zu 45 Prozent bestimmt sie, wie umarmungsfreudig sie sind. Interessanterweise trifft dasselbe aber nicht auf Männer zu. Wie grosszügig sie Berührungen verteilen, ist scheinbar unabhängig von ihrer Erbinformation. Warum das so ist, können zum jetzigen Zeitpunkt auch die Forschenden nicht erklären.
Wie auch der Vergleich amerikanischer und französischer Jugendlicher demonstrierte, ist das Verhalten aller Menschen davon geprägt, wie und wo sie aufwachsen. Seit einigen Jahrzehnten ist bekannt: Um Missverständnisse zu verhindern, ist es wichtig, die kulturellen Hintergründe zu beachten. Jemand, der in Puerto Rico aufwächst, hat einen anderen Bezug zur Körperlichkeit als jemand, der in England gross geworden ist. Im Zuge einer Studie über Berührung beobachtete der Psychologe Sydney Jourard, dass sich Paare in San Juan während einer Stunde durchschnittlich hundert Mal berührten. Dasselbe geschah in London durchschnittlich: null Mal.
Den Berührungshunger lindern
Schade für die Briten, denn Berührungen haben auf den Körper etliche positive Wirkungen. Dazu gehören niedrigerer Blutdruck und tiefe Herzfrequenz, weniger Ausstoss von Kortisol, einem Stresshormon und ein erhöhter Ausstoss an Oxytocin, auch Kuschelhormon genannt.
Während einer Pandemie ist es aber schwierig, Umarmungen auszutauschen. Am ehesten sind sie mit Familienmitgliedern oder Personen, die im gleichen Haushalt leben, möglich. Was aber ist mit den vielen Menschen, die in einem Einzelhaushalt leben? In einer Medienmitteilung gibt Kory Floyd, Professor für Gesundheit und Familienkommunikation an der Universität Arizona, einige Tipps:
- Streichle deine Haustiere, falls du solche hast. Wenn nicht, kannst du den Vierbeinern im nächsten Tierheim deine Zuwendung schenken.
- Kuschle mit einer Decke. Nicht nur Kinder tröstet und beruhigt das.
- Massiere dich selbst. Das ist zwar nicht ganz so toll, wie von jemand anderem massiert zu werden, hilft aber auch gegen Stress.
Keine dieser Massnahmen ist ein gleichwertiger Ersatz für die Berührung durch einen anderen Menschen. Sie sind jedoch allemal besser, als ganz auf Berührungen zu verzichten. Und sie helfen, die Zeit zu überbrücken, bis Umarmungen und Küsschen wieder ungehemmt ausgetauscht werden können.