Das musst du wissen

  • Familienfeiern sind wichtig, weil die Familie uns Kraft und Identität schenkt.
  • Familienfeiern an christlichen Feiertagen sind so beliebt, weil die gesamte Gesellschaft mitfeiert.
  • Denn sowohl Feiertage als auch grosse Volksanlässe geben uns das Gefühl, zur Gesellschaft zu gehören.
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Ostern ohne Grosi? Schon zum zweiten Mal feiern viele Menschen Ostern ganz anders als vor der Pandemie. Das bestätigt auch eine Umfrage unter unseren Leserinnen und Lesern: «Wir haben eine Pandemie, die Zahlen steigen. Seit Monaten treffen wir niemanden drinnen, höchstens zu einem Spaziergang draussen. Warum soll es an Ostern anders sein?», schreibt uns Dominique Meier-Marty. Unsere Leserin Caro Fährmann feiert Ostern «genauso wie Weihnachten: Inhaltlich egal, aber alle haben Zeit, also treffen wir uns im kleinen Kreis der Wahlfamilie, kochen was Schönes, köpfen die eine oder andere Flasche Wein und wer mag, macht ein kleines Geschenk.»

Warum aber sind vielen Menschen Familienfeiern an christlichen Feiertagen so wichtig, selbst wenn sie nicht religiös sind? Und weshalb wollen sich viele Leute zum Feiern ins Gedränge bei einem Konzert stürzen? Und wieso brauchen Menschen auch mal nicht alltägliche Freuden wie eine Achterbahnfahrt?

Beginnen wir, passend zu Ostern, mit den Feiertagen.

Weshalb wir die Familie an Feiertagen treffen wollen

«Die Familie formt beim gemeinsamen Feiern ihre Identität und versichert sich dieser Identität immer wieder aufs Neue», erklärt Sacha Szabo. Der Soziologe und Unterhaltungswissenschaftler leitet das Institut für Theoriekultur in Freiburg im Breisgau und erforscht die unterschiedlichsten sozialen Zusammenkünfte. Die Identitätsstiftung geschehe zum Beispiel über Rituale, die in jeder Familie eine individuelle Ausprägung haben. Dazu gehöre zum Beispiel die ganz besondere Oster-Rüeblitorte der Tante, die vor Jahrzehnten einmal vom Rezept abgewichen ist und seitdem immer ihre unvergleichliche Version backt.

«Die Familie ist eine Gruppe, aus der wir Kraft schöpfen und deren Mitglieder sich gegenseitig unterstützen», ergänzt Rolf van Dick, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt. In einer internationalen Studie, die noch nicht veröffentlicht wurde, hat er gemeinsam mit Forschenden der Universitäten Giessen und Hildesheim untersucht, wie unsere Gesundheit mit unserer Identifikation mit Gruppen zusammenhängt. Die Forschenden befragten am Anfang der Corona-Zeit Probanden, wie sehr sie unter Stress oder Kopfschmerzen litten. Vier Wochen später gaben die Teilnehmenden ein Update. Das Resultat: Menschen, die sich stark mit ihrer Familie identifizieren, hatten weniger Stresssymptome. Der Sozialpsychologe bilanziert: «Das Gefühl, sozial eingebunden zu sein, ist für unsere Gesundheit sehr wichtig. Und die Familie ist in diesem Zusammenhang ein besonders wichtiger Faktor.»

Aber weshalb wünschen sich viele Menschen auch zu Corona-Zeiten die Familienzusammenkunft unbedingt an christlichen Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern – selbst wenn sie nicht religiös sind? Die Antwort: «An Ostern oder Weihnachten fühlen wir uns nicht nur mit unserer Familie verbunden, sondern auch mit all den anderen Menschen, die diese Feiertage feiern», sagt Sacha Szabo. So entwickle sich eine kollektive gesellschaftliche Identität.

Projekt «Contoc – Churches in times of Corona»

Der Zürcher Theologe Thomas Schlag erforscht im Rahmen des Projekts «Contoc – Churches in times of Corona», ob die Pandemie den Kirchen einen Digitalisierungsschub verpasst hat. Denn viele Angebote wie zum Beispiel die Oster- und Weihnachtsgottesdienste konnten nur digital per Youtube oder auch auch interaktiv per Zoom-Konferenz stattfinden. Dem Theologen fiel im Rahmen der Forschung auf, wie sehr die Reaktionen der Kirche auf die Pandemie den Reaktionen der Bevölkerung ähnelten: «Ostern und Pfingsten 2020 standen unter dem Eindruck einer Notfalloperation. Man musste kreativ werden und sich der neuen Situation schnell anpassen», erklärt er. Im Sommer hätten Kirchenvertreter genau wie weite Teile der Bevölkerung gedacht, die Pandemie sei bald vorbei und man könne wieder zur Normalität zurückkehren. «Die virtuellen Weihnachtsgottesdienste haben deshalb wieder in einer Art Notfallmodus stattgefunden», sagt er. Die Studie habe ergeben, dass während des Corona-Jahrs viele alternative Formen ausprobiert wurden, um Gottesdienste, aber auch soziales Engagement der Kirchen fortzuführen. Ob die Kirchen in den digitalen Formaten tatsächlich ein gemeinschaftsbildendes Potenzial sehen und sich diesbezüglich weiterentwickeln werden, sei noch offen.

Weshalb wir uns in grossen Gruppen wohlfühlen

Feiern – das bedeutet für viele nicht nur das Beisammensein im Familienkreis, sondern Open-Air-Konzerte, Dorffeste oder Freizeitpark. Weshalb aber sind diese Anlässe, zu denen sich riesige Menschenmengen zusammenraufen, überhaupt wichtig für uns? «Bei Massenveranstaltungen haben Menschen das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die gemeinsame Ziele und Werte hat», sagt der Sozialpsychologe Rolf van Dick. Sacha Szabo ergänzt: «Bei Veranstaltungen wie Stadtfesten oder Weihnachtsmärkten geht es darum, einander zu begegnen und auch flüchtige Bekannte zu begrüssen. Das stärkt den Zusammenhalt einer Gruppe.»

Und: «Bei Festen oder in Vergnügungsparks können wir die Selbstbeherrschung aufgeben, die wir im Alltag ständig praktizieren», fährt Unterhaltungswissenschaftler Szabo fort. Eine ähnliche Funktion haben laut dem Forscher auch rauschende Feste wie das Oktoberfest und andere Massenveranstaltungen. «Bei der Achterbahnfahrt oder während der wilden Partynacht vergessen wir für einen Augenblick die grossen anthropologischen Kränkungen, nämlich die Angst vor Tod und Krankheit, aber auch die kleinen Sorgen des Alltags.» Es finde ein kontrollierter Kontrollverlust statt. «Ich liefere mich der Achterbahnfahrt aus, habe aber gleichzeitig die Gewissheit, dass die Fahrt gut ausgehen wird.» Während der Corona-Pandemie Zeiten wäre ein kurzweiliges Vergnügen für viele Menschen hilfreich, um nicht ständig an die kleinen und grossen Sorgen zu denken. Denn ständig haben wir Gefahren vor Augen, müssen Kontrolle wahren und uns an viele Regeln halten. Doch ein kontrollierter Kontrollverlust sei in einer Pandemie wie dieser nicht möglich, erklärt der Unterhaltungswissenschaftler: «Wenn ich in dieser Situation die Kontrolle abgebe, mich ins Getümmel stürze, um ein rauschendes Fest zu feiern oder mit vielen anderen Achterbahn zu fahren, dann gibt es niemanden, der sicherstellen kann, dass das gut ausgeht.»

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Können wir das soziale Beisammensein wenigsten Online nachspielen? Eine Videokonferenz könne das gemeinsame Osteressen der Familie nicht ersetzen, stellt Sacha Szabo klar. Denn das Nonverbale, das scheinbar Nebensächliche falle weg. Er liefert ein Beispiel: «Wenn Sie neben mir am Tisch sässen, könnten Sie über den ausschweifend erzählenden Onkel die Augen verdrehen und mir eine Bemerkung zuflüstern. Das geht bei einer Videokonferenz nicht.»

Der Sozialpsychologe Rolf van Dick ist ebenfalls überzeugt, dass die virtuelle Begegnung kein Ersatz für das persönliche Treffen sein kann: «Per Videokonferenz können wir die Emotionen unserer Gesprächspartner nicht gut wahrnehmen. Feinheiten im Gesichtsausdruck, in Körperhaltungen, in der Gestik und Mimik gehen verloren», sagt er.

Auch Online-Angebote wie der Live-Stream eines Konzerts sind laut Sacha Szabo nur ein Provisorium. Denn bei grossen Veranstaltungen wie einem Open-Air-Konzert, beim Oktoberfest oder im Freizeitpark werde die Gesellschaft ein Teil von mir und ich ein Teil der Gesellschaft. Entscheidend dafür sei die körperliche Erfahrung mit allen Sinnen. Ohne Körper bleibt das soziale Erleben also auf der Strecke. Wird der Körper wegen sozialen Anlässen aber krank, ist das Ziel ebenfalls nicht erreicht. Uns bleibt nur: Durchhalten.

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