Das musst du wissen

  • Weltweit sind geschätzt 21 Millionen Erwachsene und Kinder Opfer von Menschenhändlern.
  • In einer Studie gaben 88 Prozent von sexuell Ausgebeuteten an, mit Ärzten in Kontakt gestanden zu haben.
  • Fachleute empfehlen, Spitäler und Fachpersonal stärker auf die Thematik zu sensibilisieren.
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Sie leben in sklavenähnlichen Verhältnissen – auch in der Schweiz. Zwar werden sie als Opfer von Menschenhandel bezeichnet. Aber im Grunde sind sie wie Sklaven ihrer Freiheit und ihres Willens beraubt. Für die meisten Schweizer und Schweizerinnen bleiben diese Menschen unsichtbar. Hiesige Mediziner und Medizinerinnen kommen mit Opfern des Menschenhandels jedoch in Berührung. Und können für sie eine zentrale Rolle spielen.

Etwa Zahnärzte und Zahnärztinnen an sozialen Einrichtungen, die marginalisierte Menschen behandeln. Zahnmedizinische Fachleute können Opfer des Menschenhandels anhand bestimmter Anzeichen erkennen, etwa an Erkrankungen der Mundhöhle, die auf erzwungenen Oralsex zurückgehen. Das gilt besonders bei Opfern von Menschenhandel, die zur Prostitution gezwungen werden. Auch weisen die Betroffenen häufig Symptome von Mangelernährung auf, etwa Zahnfleischschwund und Zahnfleischbluten.

Der forensische Zahnmediziner Emilio Nuzzolese weiss um mögliche Spuren am Gebiss und Kiefer der Opfer: «Grundsätzlich macht mich als einen Zahnarzt all das stutzig, was im Kontext unserer hohen gesundheitlichen aber auch rechtsstaatlichen Standards auffällig wirkt», sagt er. Dazu zählen für den Berater von Interpol auch bestimmte Arten von Zahnlücken und Verformungen des Kiefers. Sie können auf Schläge ins Gesicht und andere Formen der Gewalteinwirkung hinweisen.

Nur weil in der Prostitution das Gesicht eine wichtige Rolle spielt, lassen Menschenhändler den Kontakt ihrer Opfer zu zahnmedizinischen Fachleuten überhaupt zu. Aber sie überwachen diesen Kontakt und lassen ihre Opfer während der Behandlung selten mit dem medizinischen Personal allein. Gespräche zwischen Opfern und Medizinern sind hier kaum möglich. Falls sich trotzdem die Möglichkeit eines kurzen Dialogs ergibt, müssen die Mediziner und Medizinerinnen bedacht handeln. «Wenn wir anfangen, Fragen zu stellen, oder gar die Polizei holen, sehen wir die Opfer nie mehr – im schlimmsten Fall entledigen die Menschenhändler sich ihrer, um ihre Spuren zu verwischen», sagt ein Schweizer Zahnarzt, der an einer Einrichtung für Sozialmedizin tätig ist. Er konzentriert sich vor allem auf eins: Menschen in zahnmedizinischer Not zu helfen. Gleichzeitig hofft er, Vertrauen herzustellen, sowohl zum Opfer als auch zum Täter – auf dass sie wiederkommen und die Opfer mit ihrem körperlichen Leiden nicht allein gelassen sind.

Laut der International Labour Organization sind weltweit 21 Millionen Erwachsene und Kinder Opfer von Menschenhändlern und Menschenhändlerinnen. Schätzungen zufolge machen die Kriminellen einen jährlichen Gewinn von bis zu 150 Milliarden Dollar. Wie viele Opfer es in der Schweiz gibt, ist nicht bekannt. Der Bundesrat bezeichnet den Menschenhandel hierzulande als ein «wenig bekanntes und vermutlich unterschätztes Phänomen».

Dagegen lässt sich in anderen europäischen Ländern ein wachsendes Bewusstsein für diese Form des organisierten Verbrechens feststellen – sowohl seitens des medizinischen Personals als auch der politischen Entscheidungsträger. So berichteten beispielsweise die britischen Zahnärzte Emma Walshaw und Kishan Patel im vergangenen Jahr: «Jüngste Angaben der Regierung legen nahe, dass die Zahl der von Menschenhandel Betroffenen in Grossbritannien zunimmt – es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass auch wir Zahnärzte häufiger mit ihnen zu tun haben als wir denken.» Im «British Dental Journal – Team», einer Publikation des Britischen Zahnärzteverbandes, erläuterten Walshaw und Patel, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Zahnarztpraxen die Betroffenen erkennen und ihnen helfen können.

In der Schweiz sind es primär spezialisierte Opferschutzorganisationen und Nichtregierungsorganisationen, die ein fundiertes Verständnis von hiesigem Menschenhandel besitzen. Laut der Zürcher Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration werden die meisten Opfer hierzulande sexuell ausgebeutet.

Eine amerikanische Untersuchung mit geretteten Opfern, die vormals zur Prostitution gezwungen wurden, zeigt, dass knapp 88 Prozent von ihnen während ihrer Gefangenschaft mit Ärztinnen und Ärzten Kontakt hatten. 26 Prozent kamen mit gynäkologischen und 27 Prozent mit zahnmedizinischen Fachleuten in Berührung.

Science-Check ✓

Studie: The Health Consequences of Sex Trafficking and Their Implications for Identifying Victims in Healthcare FacilitiesKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Studie basiert auf Angaben der Befragten, es wurden keine eigentlichen Gesundheitsuntersuchungen durchgeführt. Auch ist die Stichprobe mit etwa 100 Probanden nicht besonders gross. Die Resultate können deshalb Hinweise geben, müssen aber durch weitere Studien bestätigt werden. Auch handelt es sich um Probanden aus den USA, allgemeingültig sind die Aussagen der Studie nicht unbedingt.Mehr Infos zu dieser Studie...

«Ähnliche Zahlen sind auch in der Schweiz vorstellbar», sagt die Amerikanerin Makini Chisolm-Straker, die neben ihrer Arbeit als Notfallärztin dazu forscht, wie Angehörige des Gesundheitswesens Opfer von Menschenhandel identifizieren und ihnen helfen können.

Der amerikanischen Studie zufolge hatten 56 Prozent der Geretteten während der Zeit, in der sie ausgebeutet wurden, mit notfallmedizinischem Personal zu tun. Notmediziner und Notmedizinerinnen sind theoretisch in einer günstigeren Lage, um Opfern zu helfen, als Zahnärzte: In der Notaufnahme könnten sie beispielsweise eine Frau, die sexuell ausgebeutet wird, leichter von dem Menschenhändler oder Zuhälter isolieren und sie über den Schweizer Opferschutz informieren. Allerdings ist nur ein Bruchteil des notfallmedizinischen Fachpersonals hierzulande entsprechend aufgeklärt: Selbst wenn hiesige Mediziner und Medizinerinnen etwas Verdächtiges bemerken, stellen sie meistens nicht den Zusammenhang zum Menschenhandel her.

Die Rolle des medizinischen Fachpersonals liegt nicht darin, Opfer von Menschenhandel zu retten. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Patienten zu unterstützen und ihre Genesung und Heilung zu fördern. Menschen in sklavenähnlichen Situationen bedürfen von Ärzten und Ärztinnen besondere Formen der Unterstützung – aber diese Hilfe steht ihnen hierzulande nicht ausreichend zur Verfügung. Das soll sich ändern.

Die Koordinationsstelle für Menschenhandel und Menschenschmuggel des Bundesamtes für Polizei Fedpol hat 2017 die Kampagne zur Sensibilisierung von Fachpersonen im Gesundheitswesen lanciert. Bislang haben einzelne Kantone rund 20 Aufklärungsveranstaltungen in medizinischen Einrichtungen organisiert. Für 2020 hatte die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration schweizweit zwei solcher Veranstaltungen geplant. Aufgrund der Pandemie konnte nur eine stattfinden.

Makini Chisolm-Straker wünscht sich grundsätzlich mehr: «Jedes Krankenhaus sollte ein entsprechendes Verhaltensprotokoll für den Umgang seines Personals mit potenziellen Opfern des Menschenhandels besitzen», sagt die Notärztin. Sie ist eine der Pionierinnen, die anhand von Gesprächen mit Überlebenden in den USA solche Protokolle entworfen haben. Doch mit einer Fortbildung und einem Protokoll sei es nicht getan. «Eine jährliche Wiederholung von Schulungen für das medizinische Fachpersonal wäre wünschenswert», sagt Chisolm-Straker. Das sei sinnvoll, weil die Medizinerinnen und Mediziner nicht täglich mit Opfern von Menschenhandel zu tun haben – und deshalb keine fundierte Routine im Umgang mit ihnen besitzen. Auch weil Gesetze rund um Menschenhandel und seine Strafverfolgung sich dynamisch entwickeln können, seien regelmässige Schulungen wichtig.

Solche jährlichen Schulungen sollten in Zusammenarbeit mit Überlebenden von Menschenhandel in dem jeweiligen Land entworfen werden, um länderspezifischen Merkmalen des Verbrechens gerecht zu werden. Zu diesem Fazit kam das amerikanische Forscherteam um Hannah Fraley. Das Team wertete in einer Meta-Untersuchung die bis 2018 erschienenen Studien aus, in denen es um Interventionen des medizinischen Fachpersonals bei Verdacht auf Menschenhandel ging.

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Dagegen wollen die Briten Walshaw und Patel bei der Sensibilsierung von medizinischem Fachpersonal früher ansetzen: bereits während des Studiums oder der Ausbildung. Dies scheint bisher eher vereinzelt stattzufinden. «Ich weiss von Dozenten, die meinen Artikel zur Pflichtlektüre in ihren Seminaren machen», sagt Michael O’Callaghan. Der amerikanische Zahnarzt hat 2012 einen Fachartikel darüber geschrieben, wie seine Berufskollegen Opfer von Menschenhandel erkennen können – den ersten dieser Art.

Aus seiner Erfahrung mit Betroffenen weiss O’Callaghan, dass sehr viel Feingefühl im Umgang mit Opfern nötig ist: «Diese Menschen sind stark traumatisiert und eingeschüchtert – und werden nicht sofort dankbar unsere Hilfe annehmen», sagt der Zahnmediziner im Gespräch. Das liegt auch daran, dass Menschenhändler ihre Opfer erpressen. Meistens drohen sie, ihren Verwandten Gewalt anzutun. Weil die Täter länderübergreifend organisiert und stark vernetzt sind, fällt es ihnen leicht, ihre Opfer zu kontrollieren.

Betroffenen zu helfen, ist auch deshalb schwierig, weil sie bisweilen als Täter wahrgenommen werden: Manche Menschenhändler zwingen ihre Opfer – Frauen wie Männer – zu kriminellen Aktivitäten. Etwa zum Diebstahl. Anschliessend verkaufen die Menschenhändler das Diebesgut und machen so Gewinn. Andere Opfer werden gezwungen, Drogen zu verkaufen. Einmal von der Polizei aufgegriffen, werden diese Personen als Kriminelle behandelt. «Ohne dass genauer hingeschaut wird», sagt die Notfallmedizinerin Chisolm-Straker.

Aber Menschenhandel ist ebenfalls in Wirtschaftszweigen zu finden, die weithin als legal und sicher gelten, etwa in der Altenpflege und Haushaltshilfe. Auch in der Schweiz: «Ich habe wiederholt eine Frau behandelt, die in einem Haushalt gearbeitet hat», sagt Linda Stoll, Ärztin und Leiterin von Meditrina, der medizinischen Anlaufstelle für Sans-Papiers. «Meine Patientin hat eine sklavenähnliche Situation erlebt.»

Eine andere weibliche Überlebende berichtete der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, über Monate hinweg ohne einen freien Tag 18 Stunden am Tag im Haushalt gearbeitet zu haben. Die Frau war nicht ausreichend verpflegt. Dauerhunger und Mangelernährung waren zwei ihrer körperlichen Leiden. «Über drei Monate lang hatte ich mir angewöhnt, mich wie auf Samtpfoten zu bewegen, keinen Mucks zu machen, aufzuhören zu existieren», schilderte die Überlebende. Selbst als sie aus ihrer Situation gerettet wurde, bewegte sie sich aus Gewohnheit heraus weiterhin auf Zehenspitzen.

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