Das musst du wissen

  • Das Humanforschungsgesetz regelt in der Schweiz die Forschung am Menschen strikt.
  • Jeder klinische Versuch mit neuen Arzneimitteln muss von der Ethikkommission und Swissmedic bewilligt werden.
  • Unerwartete Nebenwirkungen müssen gemeldet werden. Bei Fehltritten drohen Bussen, Geldstrafen und Gefängnis.

Der Testskandal aus Münsterlingen tönt wie aus einem Gruselfilm. Der Gruselfilm spielt im Kanton Thurgau: Dort wurden von 1946 bis 1980 klinische Versuche in der Psychiatrie durchgeführt, ohne dass die Patienten oder ihre Angehörigen davon wussten. In einem vierjährigen Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse nun veröffentlicht wurden, haben Historikerinnen und Historiker rund 1100 Testpersonen identifizieren können – die Dunkelziffer liegt weit höher.

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Studie: Testfall Münsterlingen: Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940-80KommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDas Forschungsprojekt hat über vier Jahre gedauert, 24 Archivschachteln Quellenmaterial wurde analysiert und ausgewertet. Die Resultate sind sehr zuverlässig, Anspruch auf Vollständigkeit erheben sie nicht.Mehr Infos zu dieser Studie...

Der damalige Oberarzt und Klinikdirektor Roland Kuhn war bei den Versuchen federführend: Über Jahrzehnte übernahm er von der Basler Pharmaindustrie Aufträge – für gutes Geld. Die Versuche führte er nicht systematisch durch. Es gab keine Kontrollgruppen, keine Protokolle, keine systematische Überwachung der Testpatienten. Todesfällen ging er nicht nach. Roland Kuhn verliess sich grösstenteils auf sein Bauchgefühl. Damit wich je länger je mehr von der Norm ab. Denn der ethische Wandel in der Medizin – hin zu mehr Patientenschutz – setzte mit der Deklaration von Helsinki ab 1964 ein. Die Schweiz zog 1970 mit Richtlinien nach. Erst 1989 wurde aber die erste Ethikkommission gegründet – im Kanton Thurgau.

Psychiatrische Klinik MünsterlingenPixabay/Dominic Venezia

In der psychiatrischen Klinik Münsterlingen wurden bis 1980 klinische Versuche an Patientinnen und Patienten durchgeführt, ohne dass diese davon wussten. Auch die Pharmaindustrie war involviert.

Doch wie werden Versuche am Menschen eigentlich heute durchgeführt? Das Humanforschungsgesetz regelt Menschenversuche seit 2014 strikt. So muss jeder klinische Versuch von einer kantonalen Ethikkommission abgesegnet werden. Sind nicht zugelassene Arzneimittel involviert, muss auch die Schweizerische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde Swissmedic das Vorhaben prüfen. 2017 wurden 213 Gesuche für klinische Versuche mit Arzneimitteln eingereicht – das wären also jede Woche vier Gesuche.

«Dass ein Gesuch im ersten Anlauf bewilligt wird, gibt es praktisch nicht», sagt Susanne Driessen, Präsidentin von Swissethics, dem Dachverband der Ethikkommissionen. Ebenso selten aber werde ein Gesuch definitiv abgelehnt. Dies geschieht nur, wenn die Studie gravierende wissenschaftliche Mängel aufweist – oder ethisch nicht vertretbar ist. Wenn eine Testsubstanz zum Beispiel zu risikoreich ist.

Ein Risiko gibt es aber immer – vor allem bei Studien, die eine Substanz zum ersten Mal am Menschen testen, sich also in der sogenannten Phase I befinden. Diese Studien schliessen nur sehr wenige Personen ein – am Anfang sind es meist drei bis neun, denen sehr niedrige Dosen verabreicht werden. Die Dosen werden auf Grund der Erfahrungen aus Tierversuchen, der Toxikologie und Modellen gesetzt. Im Fokus solcher Studien steht die Sicherheit – die höchste Hürde für ein Medikament. «Die überwiegende Mehrheit der Testsubstanzen von Phase-I- Studien schaffen es nicht bis zur Zulassung», sagt Driessen.

Treten während Menschenversuchen unerwartete, schwere Arzneimittelwirkungen auf, müssen diese den Überwachungsstellen gemeldet werden. Dass es zu unerwarteten Todesfällen während des Versuchs kommt, ist enorm selten – aber ebenfalls nicht auszuschliessen. Genau dies passierte 2016 in Frankreich: Ein Mann verstarb an einer Testsubstanz und vier weitere trugen schwere neurologische Schäden davon. Ein Bericht legte die Mängel des Versuchs offen: So hatten die Testpersonen zum Beispiel auch noch Dosen bekommen, nachdem der erste Mann hospitalisiert worden war. «Genau deshalb gelten heute in der Schweiz lange Latenzzeiten», sagt Driessen. Eine neue Substanz wird zuerst nur einem einzigen Patienten verabreicht – der zweite Patient erhält sie versetzt. Doch egal, wie viele Regeln gelten: «100 Prozentige Sicherheit erreicht man bei klinischen Versuchen nicht», sagt Driessen. Dies müsse den Testpersonen auch klar gemacht werden.

Noch schwieriger sind klinische Versuche aber bei «vulnerablen» Personengruppen, die nicht selber entscheiden können. Dazu gehören Kinder, Demente, bewusstlose Personen auf der Intensivstation – oder eben Menschen mit schweren, psychischen Krankheiten. «Es wäre unethisch, wenn Menschen mit psychischen Krankheiten nicht von der klinischen Forschung profitieren könnten», sagt Alexander aus der Abteilung Klinische Versuche bei Swissmedic. Denn ohne klinische Versuche keine neuen Arzneimittel. Klinische Versuche könnten auch besonders verletzlichen Personengruppen durchgeführt werden, so Mion, die Anforderungen seien hier aber besonders hoch. So muss beispielsweise das Einverständnis der Angehörigen eingeholt werden.

Swissmedic führt zudem laute Susanne Driessen bei 10 Prozent der klinischen Studien Inspektionen durch. Fehltritte der Forschenden hätten schwere Konsequenzen: Forschende verlieren die Versuchsbewilligung und können mit Bussen, Geldstrafen oder bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden.

Diesen Beitrag haben wir ursprünglich für nau.ch geschrieben.
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