Das musst du wissen
- Im Jahr 1854 entdeckten Arbeiter im Zürichsee Überreste menschlicher Siedlungen.
- Damit begann das Pfahlbauerfieber in der Schweiz, mit dem ein Mythos geschaffen wurde, der die Nation stärken sollte.
- Die Pfahlbauer waren aber kein Schweizerisches Spezifikum.
Die Entdeckung der «Pfahlbauer» in der Schweiz geht auf das Jahr 1854 zurück – überspitzt könnte man auch von einer Erfindung sprechen. Der Winter war in jenem Jahr kalt und trocken, der Spiegel des Zürichsees besonders niedrig. In Meilen entdeckten Arbeiter bei der Errichtung eines Deichs im Seegrund aussergewöhnliche Gegenstände aus Stein, Keramik und Hirschgeweih, welche inmitten von Pfählen lagerten. Der Vorsteher der Antiquarischen Gesellschaft Zürich, Ferdinand Keller, identifizierte sie als Überreste einer Siedlung, die noch vor der Römerzeit errichtet worden sein musste und publizierte einen Aufsatz darüber. Es handelte sich um die Geburtsstunde der Schweizer Urgeschichtsforschung – und um den Ursprung eines Schweizer Mythos, der bis heute nachwirkt.
«Es war pionierhaft, dass Keller die Funde einer urgeschichtlichen Siedlung zuordnete», sagt Marc-Antoine Kaeser, Titularprofessor für Urgeschichte der Universität Neuenburg. In der Folge wurden auch an andern Seen solche prähistorischen Zeugnisse gefunden und unter Einbezug von Naturwissenschaftlern untersucht. Am Bielersee zum Beispiel geschah dies nach der Juragewässerkorrektion von 1868, als der Wasserspiegel sank. Noch nicht wissen konnte man damals, dass die Fundgegenstände nicht einer einheitliche Kultur entstammten, sondern einer Zeitepoche, welche 3500 Jahre umfasst: Diese reicht von der Steinzeit (Neolithikum) bis in die Bronzezeit um 800 vor Christus.
Zwar fand man auch in den Nachbarländern solche Siedlungen, in der Schweiz waren es aber besonders viele und die Pfahlbauer wurden da besonders idealisiert. 1847 hatten sich Katholiken und Liberale im Sonderbundskrieg bekämpft, im Jahr darauf erfolgte die Gründung des Schweizerischen Bundesstaats. Weil sie als besonders fleissig und friedfertig galten, wurden die Pfahlbauer zu identitätsstiftenden Vorfahren für den jungen Bundesstaat. Als Bewohner des Mittellandes versinnbildlichten sie laut Kaeser besser die moderne Schweiz als die konservativen Bergbewohner, die im Sonderbundkrieg auf der Verliererseite gestanden hatten.
In der Schweiz brach kurz nach dem Fund in Meilen 1854 ein Pfahlbaufieber aus. Die Funde erwiesen sich als begehrte Handelsobjekte. Fischer tauschten ihre Netze gegen Zangen, mit denen sie in den Seen herumstocherten, um dann ihre urgeschichtlichen Funde ins Ausland bis nach Russland und Brasilien zu verkaufen. Die Nachfrage sei so gross gewesen, dass Handwerker sogar begannen, Fälschungen herzustellen, schrieb Kaeser 2004 in einem Aufsatz des Heimatbuchs Meilen. Die Behörden schoben dem zwar bald den Riegel vor: Die Fälscher wurden staatlich verfolgt, die Kantone erliessen Regelungen für archäologische Ausgrabungen. Der Mythos rund um die Pfahlbauer verursachte laut der heutigen Archäologie-Forschung aber vielleicht noch einen grösseren Schaden, weil er ein falsches Bild vermittelte.
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Zunächst ist da die Idee, dass die Pfahlbauer ihre Siedlungen auf grossen Plattformen über den Seen errichtet hätten. Heute weiss man, dass dem nicht so ist: Sie bauten ihre Siedlungen vielmehr an den Ufern, und man spricht deshalb heute von Ufersiedlungen. Wenn durch ein verändertes Klima der Seespiegel sank, konnten sie auf dem freigewordenen Terrain ihre Pfähle in den feuchten Boden rammen. Stieg das Wasser, gaben sie die Siedlungen wieder auf.
Heute weiss man zudem, dass sich die Ufersiedlungen nicht grundsätzlich unterscheiden von den prähistorischen Siedlungen im Landesinnern. Dies hält das Historische Lexikon der Schweiz fest, das die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer Artikelserie zum Thema zusammenfasste. Im Seegrund und auch in Mooren wurden die Holzbalken der Siedlungen sowie Flechtwaren und Textilien der Bewohnerinnen und Bewohner einfach sehr viel besser konserviert als im Landesinnern. Laut Kaeser ist es deshalb auch falsch, von einer eigentlichen Pfahlbaukultur zu sprechen. «Stellen Sie sich vor, es gäbe heute eine grosse Katastrophe, und nur die Wohnungen im dritten Stock blieben erhalten. Es würde auch keinen Sinn machen, von einer Kultur des 3. Stocks zu sprechen», meint er lachend. Die Menschen, welche Häuser auf Pfählen errichteten, unterschieden sich also kulturell nicht grundsätzlich von den anderen Menschen der Steinzeit oder der Bronzezeit.
Auch heute noch wirkt der Mythos bis zu einem gewissen Grad nach: «Zum Beispiel werden die Pfahlbauer durch Globalisierungskritiker als völlig selbständige und unabhängige Gemeinschaften idealisiert» sagt Kaeser, der auch als Direktor des Archäologie-Museums Laténium bei Neuenburg amtet. Dem sei aber nicht so. So fand man bei einer Ausgrabung in Zürich-Mozartstrasse eine Perle aus Bernstein, welche laut Forschern aus dem Baltikum stammt. Die Goldfassung des Schmuckstücks wurde offenbar in Südengland hergestellt. «Das beweist, dass diese Menschen in der Bronzezeit bereits über sehr grosse Distanzen miteinander vernetzt waren», hält er fest.