Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
Der Mann an der Grenze grüsste die Touristen fast so freundlich wie der Sommertag. Er fragte nach Papieren, Pässen und ob man etwas zu verzollen habe. Und dann erinnerte er die Reisenden daran, die Uhren nun bitte eine Stunde zurückzustellen. Sie kämen ja jetzt in die Schweiz.
An den Grenzen, am Flughafen, im Bahnverkehr: überall spielten sich im Sommer 1980 ähnlich absurde Szenen ab. Die Schweiz hinkte zeitlich hinterher. Schuld an der Posse waren die Stimmbürger und die Europäische Gemeinschaft (EG). Aber drehen wir die Uhr erst mal drei Jahre zurück.
1977 hatte die EG die Einführung der Sommerzeit beschlossen. Bundesrat und Parlament zogen nach, aber dann ergriffen vier Bauern aus dem Zürcher Oberland das Referendum – nachdem sie bei der Bundeskanzlei nachgefragt hatten, wie so etwas geht. Ziemlich überraschend lehnte das Stimmvolk die Sommerzeit im Mai 1978 ab, wobei es zwischen Glarus (70% Nein) und Genf (22% Nein) grosse Unterschiede gab.
Als die Nachbarländer am 6. April 1980 die Zeiger um eine Stunde vorrückten, waren die vier Bauern glücklich – ihre Kühe mussten sich nicht an veränderte Melkzeiten gewöhnen. Dafür bekamen die Schweizer Fernsehzuschauer Probleme. Sie mussten sich entscheiden, ob sie die Schweizer Tagesschau oder den Krimi auf der ARD sehen wollten – denn beides lief zeitgleich. Damit solche Kollisionen auf der Schiene ausblieben, standen viele Züge an den Grenzbahnhöfen eine Stunde still und die SBB fuhr nach einem Notfahrplan.
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Besonders ärgerlich war die Sache aber für die Grenzgänger. Sie wechselten nun täglich mehrfach die Zeitzonen. Es sei denn, sie arbeiteten für eine jener international orientierten Firmen, die nach europäischer Zeit arbeiteten. Gegen Ende des Sommers war eigentlich allen klar, dass es so nicht weitergehen konnte – bovine Biorhythmen hin oder her.
Bundesrat und Parlament übergingen den Volksentscheid, beschlossen die Angleichung ans europäische Ausland und im Sommer 1981 war die Zeitinsel Schweiz verschwunden. Auch hierzulande wurden die Uhren nun jeden Sommer um eine Stunde vorgestellt. Die einzige nennenswerte Opposition kam von einem jungen Zürcher Nationalrat. Er echauffierte sich übers «Brüsseler Zeitdiktat» und sammelte Unterschriften für ein erneutes Referendum. Er fand aber bei weitem nicht genügend Leute die unterschrieben. Der Name des Mannes, der die Schweizer Uhren wieder zurückdrehen wollte: Christoph Blocher.
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