Das musst du wissen
- Unsere überhaupt nicht furchtlose Autorin hat ein Spinnenangst-Seminar besucht.
- Und am Schluss wirklich eine Vogelspinne auf der Hand getragen – allerdings erst nach einer schrittweisen Annäherung.
- Die Konfrontation schafft für Phobiker eine Basis, um Spinnen auch im Alltag mit besserem Gefühl zu begegnen.
Ich verfluche mich gerade innerlich für den Entscheid, hier mitzumachen. Aber es hilft nichts: Heute stelle ich mich meiner Angst. Ich leide an Arachnophobie, also krankhafter Spinnenangst. Es ist Samstag, acht Uhr morgens, und ich und neun weitere Teilnehmende warten vor dem Zoo Zürich auf die beiden Kursleiter eines Spinnenangst-Seminars.
Was mich erwartet: Die Konfrontation mit einer Vogelspinne. Dabei machen mir schon viel kleinere Spinnen grosse Angst. Dass es dafür keinen vernünftigen Grund gibt, ist mir schon klar. Aber mit Vernunft hat eine Phobie nichts zu tun. Wenn mir eine Spinne zu nahe kommt, ist das für mich mehr als nur eklig, ich bekomme Ohrenrauschen, Herzrasen, Atemnot. Die Achtbeiner einfach sein lassen oder selbst entsorgen, das geht nur bei sehr, sehr kleinen Vertretern. Sind sie etwas grösser oder begegne ich gar der bei uns häufigen Grossen Winkelspinne – meist Hausspinne genannt – dann brauche ich Hilfe. Ich kann nur eines tun: das Vieh aus der Distanz nicht aus den Augen lassen, bis mich jemand erlöst. Das nervt mich. Darum will ich nun endlich etwas tun.
Hallo Spinne
Im Spinnenangst-Seminar kann ich mich in einem geschützten und kontrollierten Rahmen mit dem Objekt meiner Angst – oder in der Therapiesprache mit dem «angstauslösenden Reiz» – konfrontieren. Schon bringt Kursleiter und Zoologe Samuel Furrer ein Terrarium in den Seminarraum, darin hockt eine mexikanische Rotknievogelspinne – allein ihr Körper ist etwa acht Zentimeter lang, Körper und Beine sind dicht behaart. Ich spüre förmlich, wie mein Adrenalinspiegel steigt. Wie auch meine Kursgspänli halte ich erst einmal Abstand, wage mich aber dann doch näher heran. Schliesslich ist die pelzige Vogelspinne noch sicher eingesperrt. Sie trägt den etwas skurrilen Namen Cassiopaia und ist zwischen fünf und sechs Jahre alt. Genau weiss Zoologe Furrer ihr Alter nicht, denn die Vogelspinne wurde in der mexikanischen Wildnis eingefangen. Er schätzt, dass Cassiopaia etwa in einem Jahr geschlechtsreif ist und bis dahin noch einen weiteren Zentimeter wachsen wird.
Wie ich meine Spinnenangst überwunden habe
Mit der Zeit fühle ich mich neben dem Terrarium ganz wohl, doch bald folgt das nächste Level punkto Angstreiz: Furrer macht sich daran, das Terrarium zu öffnen. Bei mir setzt das Herz einen Schlag aus, zumindest fühlt es sich so an. Ansonsten passiert – nichts. Ruhig sitzt die Vogelspinne da, macht keine Anstalten, aus dem Glaskasten hinauszukriechen, nur ab und zu bewegt sie sich ganz langsam ein Stück weiter. Ich nähere mich, beobachte. Eigentlich ist Cassiopaia ganz hübsch, denke ich plötzlich.
Wie entsteht die Angst?
Dass ich es überhaupt schaffe, neben einem – notabene offenen – Vogelspinnenterrarium zu stehen, liegt daran, dass sich eine Gewöhnung an die Angst eingestellt hat. Diese Gewöhnung hat das Seminar gezielt gefördert, denn schon bevor der Kursleiter die Vogelspinne Cassiopaia in den Raum gebracht hatte, hat sich die Teilnehmergruppe mit ihrer Angst beschäftigt: Wir haben uns erst Bilder verschiedener Spinnen angesehen, dann alte Häute von Spinnen in die Hand genommen und zudem von Zoologe Furrer allerlei Interessantes über die Tiere erfahren. Denn: «Je mehr man über etwas weiss, desto leichter fällt es, die Angst davor abzulegen», sagt Furrer. Gleichzeitig schafft der Kursleiter so auch eine ruhige Atmosphäre, denn durch das Zuhören ist die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden gebunden, sodass sie sich weniger auf ihre Angst konzentrieren können. Wir erfahren zum Beispiel, dass Spinnen Veteranen sind auf der Erde: Es gibt sie schon seit 350 Millionen Jahren. Mit ihren Überlebensstrategien waren sie so erfolgreich, dass sich die heutigen Vertreter kaum von ihren Ur-Ahnen unterscheiden.
Dennoch werden Spinnen von den Wenigsten geschätzt. Und ähnlich wie ich haben in unseren Breitengraden zwischen zehn und zwanzig Prozent der Bevölkerung richtige Angst vor den Krabblern – darunter Männer wie Frauen. Woher die Angst kommt, lasse sich nicht genau festmachen, sagt der Psychologe und zweite Kursleiter mit dem treffenden Namen André Angstmann. Zum Teil ist die Furcht evolutionär bedingt, manche der Achtbeiner können uns mit ihrem Gift ja wirklich gefährlich werden. Eine weitere Ursache liege in unserer Körperwahrnehmung: Je mehr ein Tier von unserem Körperschema abweicht, desto ekliger und unbehaglicher finden wir es – wie eben eine gesichtslose, achtbeinige Spinne, die sich ganz anders bewegt als wir. «Dafür finden wir junge Eisbären niedlich, mit ihren grossen Augen und dem runden Gesicht», führt Angstmann aus, «obschon uns etwas ältere Eisbären bei einer Begegnung vermutlich in Stücke reissen würden.» Und schliesslich sind wir alle von unseren Eltern beeinflusst. Wenn also Eltern ihren kleinen Kindern vorleben, dass man sich vor Spinnen ekelt oder ängstigt, dann kann sich das auf den Nachwuchs übertragen.
Spannende Spinnen
Eine der Überlebensstrategien der Achtbeiner lässt sich tagtäglich bei der hierzulande sehr verbreiteten Gartenkreuzspinne beobachten. Sie frisst nämlich jeden Tag einen Teil ihres Netzes auf und spinnt es wieder neu – und zwar die klebrigen Spiralfäden, die von innen nach aussen über das ganze Netz verlaufen. Denn die Spinnfäden bestehen aus Proteinen und deren Produktion verbraucht viel Energie. Diese Energie recycelt die Spinne, indem sie sich die Spinnseide wieder einverleibt. Gleichzeitig bleibt das Netz so immer frisch und unversehrt.
Die grössten Radnetze weben Seidenspinnen, die in vielen warmen und feuchten Gegenden der Welt leben – je nach Spinnenart können die Netze einen Durchmesser von bis zu zwei Metern erreichen. Weil die Kreationen zudem sehr stabil sind, haben manche indigene Völker diese geerntet und im flachen Wasser zum Fischen benutzt. Damit lassen sich zwar nicht riesige Fische fangen, aber viele kleine, die als Köder zum Angeln von grösseren Fischen taugen.
Übrigens, auch in der Schweiz ist eine Verwandte der Vogelspinnen heimisch: Die Gemeine Tapezierspinne wird allerdings nur 1,5 Zentimeter lang und ist selten anzutreffen, da sie sich die meiste Zeit in ihrem Unterschlupf aufhält.
Vogelspinne auf dem Arm
Jetzt gilt es, Cassiopaia selbst auf die Hand zu nehmen. Ich bin überrascht, wie wenig Mühe ich mittlerweile mit dem Gedanken habe. Einfach dadurch, dass ich die Gelegenheit hatte, mich in meinem Tempo und ohne Überraschungen mit dem Tier zu befassen. Ich will mich nicht vordrängeln, bin aber die Zweite in der Gruppe, die der Vogelspinne beide Hände entgegenstreckt. Als sie auf meine Handteller krabbelt, nehme ich mich gegen aussen zusammen, aber in meinem Innern muss ich einen Klumpen Angst ganz tief in den Bauch hinunter drücken. Dann geht’s, bis das Vieh Anstalten macht, auf meinen Unterarm zu klettern. Sofort schiesst die Angst wieder hoch. Doch schon hebt Furrer Cassiopaia wieder weg, ich trete beiseite und atme tief durch. Vor lauter Anspannung habe ich gar nicht richtig mitgekriegt, wie sich die Spinne auf meiner Hand angefühlt hat.
Ich bin schon gespannt auf das zweite Mal, doch zuerst sind die anderen Teilnehmenden dran. Dazwischen erzählt uns Samuel Furrer immer wieder Fakten über die Vogelspinne. Der Zoologe zeigt die Giftklauen und die Position der Augen – winzig sind sie, und Cassiopaia kann mit ihnen auch nicht sehr weit sehen. Ihr sensitivstes «Organ» sind die Härchen an ihrem Körper. Das gilt auch für alle anderen Spinnenarten: Mit den Härchen registrieren Spinnen kleinste Luftströmungen, über die sie Beute aufspüren und Veränderungen in ihrer Umwelt erkennen. Auf diese Weise merken Spinnen zum Beispiel, wenn am anderen Ende des Zimmers die Türe aufgeht. Sich also an eine Spinne anschleichen – unmöglich.
Und weil Cassiopaia am sensibelsten auf Luftströmungen reagiert, sollen wir darauf achten, sie nicht zu heftig anzuatmen – auch nicht, wenn wir nervös sind. Dagegen kommt die Spinne mit zitternden Händen, wie sie einige der Teilnehmenden im ersten Moment haben, gut klar.
Als ich die Vogelspinne zum zweiten Mal auf die Hand nehme, geht es schon viel besser. Ganz sanft und leicht fühlen sich Cassiopaias Beine an, während sie behutsam und gemächlich vorwärts krabbelt. Ich bleibe sogar cool, als sie auf meinen Unterarm klettert, und nehme den Arm an meinen Körper. Ich will ja nicht, dass die Spinne herunterfällt. Das also hat das Seminar schon geschafft: Dass ich diesem Tier nicht nur Angst, sondern auch Respekt entgegenbringe, und auf es achtgebe.
Plötzlich ist die Angst weg
Auch einige der anderen Teilnehmenden haben die Angst vor Cassiopaia schon fast vollständig verloren. Die Vogelspinne hat ihren ganz eigenen Charme, eine Ruhe, wie sie da auf verschiedenen Menschenhänden stoisch vor sich hin krabbelt. Und der eigene Stolz, tatsächlich den Mut gehabt zu haben, eine Vogelspinne spazieren zu führen, tut extrem gut. So schleichen sich positive Gefühle ins Bewusstsein – in Verbindung mit den sonst so gefürchteten und gehassten Spinnen ist das höchst ungewohnt und hat einen grossen Effekt: Pures Empowerment.
Natürlich, richtig nachhaltig kann eine solche einmalige Erfahrung an einem Vormittag nicht sein, das sagen die beiden Kursleiter klar. Aber es ist ein Anfang dazu, in den Spinnen mehr als nur eklige Monster zu sehen. Als ich Cassiopaia das letzte Mal nehmen darf, krabbelt sie hoch bis zu meinem Oberarm. Sie ist jetzt richtig nah an meinem Gesicht und ich kann sie gründlich betrachten. Und merke, dass ich Cassiopaia schon richtig gerne mag. Ich muss mir aktiv in Erinnerung rufen, dass sie rein instinktgesteuert ist: Cassiopaia erwidert meine Zuneigung nicht, sie mag auch ihren Besitzer nicht lieber als jemand anderen. Sie bleibt einfach dort sitzen, wo es gerade gemütlich ist, und wenn eine Bewegung sie stört, krabbelt sie vorwärts auf der Suche nach einem ruhigeren Ort.
Am Ende dieses einen Vormittags haben neun von zehn Kursteilnehmende das Objekt ihrer Angst in die Hand genommen. Noch am Morgen hat sich das niemand aus der Gruppe vorstellen können. Allerdings, ob der Kurs mir auch bei meiner alltäglichen Spinnenangst hilft? In den nächsten Wochen, das tragen uns Angstmann und Furrer auf, sollen wir Kursteilnehmenden uns weiterhin mit Spinnen beschäftigen, beispielsweise Spinnenbücher anschauen oder uns auf die Suche nach Spinnen machen. Wir können jetzt die guten Gefühle aus dem Kurs nutzen, um uns den Achtbeinern im Alltag auf eine neue und positivere Art zu nähern. Ich kaufe mir ein Spinnen-Bestimmbuch und halte Ausschau. Und tatsächlich: Nach einigen Tagen entdecke ich im Treppenhaus eine junge Hausspinne. Und freue mich darüber! Verkehrte Welt. Ich gehe ruhig nah heran – und stupse sie sogar ein paar Mal leicht mit dem Finger an. Früher wäre das ganz unvorstellbar gewesen.